Platons ungeschriebene Lehre und Urzelle des Wirtschaftslebens: Unterschied zwischen den Seiten

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[[Datei:Athens Plato Academy Archaeological Site 3.jpg|thumb|Die Ausgrabungsstätte der Platonischen Akademie, wo Platons Schüler über die Urprinzipien diskutierten]]
Die '''Urzelle des Wirtschaftslebens''' spricht sich nach [[Rudolf Steiner]] dadurch aus, dass jeder Mensch im [[Wirtschaftsleben]] in der Lage sein muss, für dasjenige, was er hervorbringt, so viel einzutauschen, dass er von dem Eingetauschten seine Bedürfnisse befriedigen kann, bis er ein gleiches Produkt wie das hervorgebrachte wieder hervorbringen kann. Eingerechnet muss dabei auch alles dasjenige werden, was abgegeben werden muss für jene, die nicht unmittelbar in der Gegenwart wirtschaftlich produktiv tätig sein können, z.B. für die Kinder und ihre Erziehung, für die Alten, Armen und Kranken usw.
Als '''ungeschriebene Lehre''' bezeichnet man eine dem antiken Philosophen [[Platon]] (428/427–348/347 v. Chr.) zugeschriebene [[Metaphysik|metaphysische]] Lehre. Sie wird in der neueren Forschung '''Prinzipienlehre''' genannt, denn sie handelt von zwei höchsten [[Prinzip]]ien, auf die alles zurückgeführt wird. Die Bezeichnung „ungeschriebene Lehre“ bezieht sich auf die Annahme, dass Platon sein Konzept zwar mündlich dargelegt, aber nie schriftlich fixiert hat.  


Die Glaubwürdigkeit der einschlägigen Quellen ist umstritten. Ihnen zufolge war Platon der Meinung, bestimmte Teile seiner Lehre seien nicht zur Veröffentlichung geeignet. Da diese Lehrinhalte nicht auf allgemeinverständliche Weise schriftlich dargelegt werden könnten, müsse ihre Verbreitung in schriftlich fixierter Form zu Missverständnissen führen. Daher soll sich Platon darauf beschränkt haben, die ungeschriebene Lehre in seiner Philosophenschule, der [[Wikipedia:Platonische Akademie|Akademie]], fortgeschrittenen Schülern zu erläutern. Aus dem mündlichen Unterricht sollen die überlieferten Angaben über den Inhalt stammen.
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" . . . In das Wirtschaftsleben hat sich hineingeschlichen dadurch gerade, daß der
moderne Kapitalismus mit seiner Sehnsucht nach der Rente, der Konkurrenz des
Kapitals, das Auf-den-Markt-werfen und Regeln nach Angehot und Nachfrage - es
hat sich in dieses Wirtschaftsleben hineingeschlichen eine Verwaltungsart eben durch
den Kapitalismus, die durch die Natur des Wirtschaftslebens nicht notwendig in
diesem Wirtschaftsleben stehen muß. Denn was braucht man in diesem Wirtschaftsleben?
Man braucht den Boden mit seiner Möglichkeit, Produkte für den Menschen
hervorzubringen; man braucht im industriellen Wirtschaftsleben die Produktionsmittel;
man braucht den Arbeiter an den Produktionsmitteln, den Handarbeiter auf
der einen Seite, den geistigen Arbeiter auf der anderen Seite. Einzelne Menschen
haben immer eingesehen, daß ein Wirtschaftsleben in sich vollendet ist, welches hat
den Boden, welches hat den physischen und den geistigen Arbeiter. Deshalb haben
stärkere Denker des Wirtschaftslebens, einer sogar, der in der Lage war, ein preußischer
Minister zu werden, das Wort ausgesprochen: «Das Kapital ist das fünfte Rad
am Wagen des Wirtschaftslebens.» Man kann sich nicht wegdenken aus dem Wirtschaftsleben
den geistigen Verwalter der Produktionsmittel und des Bodens, man
kann sich nicht wegdenken den physischen Arbeiter, man kann sich wegdenken,
ohne daß die Wirtschaft gestört wird, das Wirken des Kapitals.
Daß das eine volkswirtschaftliche Wahrheit ist, das empfindet der heutige Proletarier;
er empfindet es durch das, was ihm das Wirtschaftsleben an Leib und Seele
bringt. Was ist in einem Wirtschaftsleben drinnen, in dem wirklich nur dasjenige
herrscht, was ich eben angeführt habe? Arbeit, geistige und physische und dasjenige,
was die Produktionsmittel und der Boden liefern. Die Leistung entsteht, die notwendig
macht im menschlichen Leben Gegenleistung, und es entsteht das '''Urgebilde des Wirtschaftslebens'''. Dieses '''Urgebilde des Wirtschaftslebens''' heute reinlich herauszuarbeiten,
das ist vonnöten, damit soziale Erkenntnis möglich werde. Tritt der
Mensch ein in das Wirtschaftsleben - er muß produzieren für sich und für die
anderen Menschen. Das ist der Maßstab, daß er in seinen Leistungen sich und die
anderen Menschen wirtschaftlich halten kann. Das ist die große Frage, so einfach sie
klingt, für alles Wirtschaftsleben. Die große Frage für alles Wirtschaftsleben ist
diese: Ich muß imstande sein, innerhalb des Wirtschaftslebens, welcher Art der
Hervorbringung ich mich auch hingebe: - ich muß imstande sein, für dasjenige, was
ich hervorbringe, so viel einzutauschen aus der übrigen Wirtschaft heraus, daß ich
meine Bedürfnisse des Lebens aus dem Eingetauschten befriedigen kann, bis ich
imstande bin, eine gleiche Produktion wie das Hervorgebrachte wieder hervorzubringen.
Eingerechnet muß werden in dasjenige, was da in Betracht kommt, ich
möchte sagen, als das '''Atom des Wirtschaftslebens''', als das '''Urelement des Wirtschaftslebens''',
- eingerechnet muß werden alles dasjenige, was ich abgeben muß für die,
welche nicht unmittelbar in der Gegenwart produktiv tätig sein können; eingerechnet
muß werden alles dasjenige, was für die Kinder, für ihre Erziehung usw.
notwendig ist; eingerechnet muß werden die Quote, die ich für Arme, Kranke,
Witwen, als Altersunterstützung zu geben habe. Das alles ist einzurechnen in diese
'''Urzelle des Wirtschaftslebens''', die sich eben dadurch ausspricht, daß jeder Mensch im
Wirtschaftsleben in die Lage kommen muß, für dasjenige, was er hervorbringt, so
viel einzutauschen, daß er von dem Eingetauschten seine Bedürfnisse befriedigen
kann, bis er ein gleiches Produkt wie das hervorgebrachte wieder hervorbringt. Man
sieht es aber dieser '''Urzelle des Wirtschaftslebens''' an, daß sie nur geregelt werden
kann, wenn sie in dem Kreislauf des Wirtschaftslebens nichts anderes drinnen hat,
als die Leistungen selber; wenn man nichts anderes im Kreislauf des Wirtschaftslebens
hat als dasjenige, was der einzelne arbeitet als seine Leistung, und was die
anderen mit ihm als ihre Leistungen eintauschen können. Innerhalb dieses Kreislaufes
des Wirtschaftslebens hat nicht Ort und Stelle all dasjenige, was man nennen
kann «Kapital»; das dringt nur ein, um dieses Wirtschaftsleben zu stören und diesen
Wirtschaftsprozeß zu verunreinigen. Der Wirtschaftsprozeß wird nur reinlich, wenn
in ihm der durch das Leben aus seiner '''Urzelle des Wirtschaftslebens''' heraus gebotene
Wertausgleich der Güter stattfinden kann..." (Aus einem Vortrag von Rudolf Steiner, Tübingen, 2. Juni 1919, zitiert nach [[Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe]], {{BE|103|18f}})
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Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts haben Philosophiehistoriker den großangelegten Versuch unternommen, die Grundzüge der „ungeschriebenen Lehre“ systematisch zu rekonstruieren. Dieses Vorhaben einer Forschergruppe, die „Tübinger Platonschule“ genannt wird, hat bei vielen Altertumswissenschaftlern Anklang gefunden. Andererseits haben aber auch zahlreiche Forscher Vorbehalte geltend gemacht oder die Rekonstruktion insgesamt verworfen. Manche Kritiker halten die Quellengrundlage der Tübinger Rekonstruktion für unzureichend, andere bestreiten sogar die Existenz einer ungeschriebenen Lehre Platons oder bezweifeln zumindest ihren systematischen Charakter und betrachten sie als ein unausgearbeitetes Konzept. Die intensive und teilweise scharfe Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern des „Tübinger Platonbilds“ wird von beiden Seiten mit großem Nachdruck geführt und von den Befürwortern als [[Paradigmenwechsel]] in der Platonforschung eingestuft.
Aus dem Prinzip dieser Urzelle, wie sie Rudolf Steiner hier charakterisiert, ergibt sich ''keine'' Einkommensdifferenzierung wegen unterschiedlicher Leistungen aufgrund von Befähigung. Eine bessere Bezahlung eines besonders fähigen Mitarbeiters würde zu privater Kapitalbildung in der Hand dieses Mitarbeiters führen, wenn er es nicht einfach nur verschwendet für Luxusreisen usw. Er erhielte mehr für seine Arbeit, als er benötigt. Diese Kapitalweggabe aufgrund der Überbezahlung bedeutete auf der anderen Seite aber eine Verteuerung der Ware. Solche Kapitalbildung ginge daher zu Lasten der Gemeinschaft, und hat im eigentlichen Wirtschaftsprozeß aus der Urzelle heraus nichts zu suchen. Man staunt daher, daß z.B. [[Latrille]] eine Einkommensdifferenzierung von bis zu 1:10 vorschlägt<ref>[[Christoph Strawe]]: ''Bedürfnislohn oder Leistungslohn?
Zur Auflösung einer falschen Fragestellung'', Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, Nr. 1, 1994, S. 9, [http://www.sozialimpulse.de/fileadmin/sozialimpulse/pdf/Beduerfnislohn_oder_Leistungslohn.pdf PDF]</ref>. Man kann solche Vorschläge nur als einen Rückfall in die Entgeltungsvorstellung bezeichnen, nach der ein Mitarbeiter danach bezahlt wird, was er dem Unternehmen wert ist, insofern seine Fähigkeiten knapp sind. Um einen fähigen Mitarbeiter nicht zu verlieren, zahlt man ihm mehr, als er für seinen Bedarf benötigt: Dadurch verteuern sich die Waren, die das Unternehmen anbietet, und auf der anderen Seite wird das Bankkonto des fähigen Mitarbeiters fetter: Das ist ein Vorgang, der zu falschen Preisen führt und das Wirtschaftsleben wenn nicht schädigt, so doch belastet.


== Terminologie ==
{{GZ|Dasjenige, was man heute
ein Existenzminimum nennt, das ist noch immer auf das Lohnverhältnis
hin gedacht. Diese Art des Denkens, die wird beim selbständigen
Wirtschaftsleben nicht in derselben Weise stattfinden
können. Da wird die Frage reinlich aus dem Wirtschaftsleben heraus
gestellt werden müssen. Diese Frage wird sich dann so stellen,
daß der Mensch, indem er irgendeine Leistung vollbringt, indem er
irgend etwas hervorbringt, für diese Leistung so viel an anderen
Menschheitsleistungen durch Austausch wird zu bekommen haben,
als er nötig hat, um seine Bedürfnisse und die Bedürfnisse
derjenigen, die zu ihm gehören, zu befriedigen, bis er ein neues,
gleichartiges Produkt hervorgebracht hat. Dabei muß nur in Anrechnung
kommen all das, was der Mensch für seine Familie an
Arbeit und dergleichen zu leisten hat. Dann wird man eine gewisse,
ich möchte sagen '''Urzelle des Wirtschaftslebens''' finden. Und dasjenige,
was diese '''Urzelle des Wirtschaftslebens''' zu dem machen wird,
was eben den Menschen seine Bedürfnisse wird befriedigen lassen,
bis er ein gleichartiges, neues Produkt hervorbringt, das gilt für alle
Zweige des geistigen und materiellen Lebens. Das wird so zu ordnen
sein, daß die Assoziationen, die Koalitionen, die Genossenschaften
von der Art, wie ich sie vorhin dargestellt habe, zu sorgen
haben werden, daß diese '''Urzelle des Wirtschaftslebens''' bestehen
kann. Das heißt, daß ein jegliches Produkt im Vergleich mit anderen
Produkten denjenigen Wert hat, der gleichkommt den anderen
Produkten, die man braucht zu Befriedigung der Bedürfnisse bis
zur Herstellung eines neuen, gleichartigen Produkts. Daß diese
Urzelle des Wirtschaftslebens heute noch nicht besteht, das beruht
eben darauf, daß im Angebot und Nachfrage des heutigen Marktes
zusammenfließen Arbeit, Ware und Recht und daß diese drei
Gebiete in der Zukunft getrennt werden müssen im dreigeteilten,
gesunden sozialen Organismus.|337a|82f}}


Der Ausdruck „ungeschriebene Lehren“ ({{Polytonisch|ἄγραφα δόγματα}} ''ágrapha dógmata'') zur Bezeichnung von schulinternen Lehrinhalten Platons ist erstmals bei dessen Schüler [[Aristoteles]] bezeugt. In seiner ''[[Physik (Aristoteles)|Physik]]'' schreibt Aristoteles, Platon habe in seinem [[Platonischer Dialog|Dialog]] ''[[Timaios]]'' einen Begriff anders verwendet als „in den sogenannten ungeschriebenen Lehren“.<ref>Aristoteles, ''Physik'' 209b13–15.</ref> Auf diesen antiken Ausdruck greifen die modernen Befürworter der Authentizität der Prinzipienlehre zurück. Aristoteles verwendet hier das Wort „sogenannt“ nicht ironisch, sondern wertneutral.          
{{GZ|Und gleichsam die '''Urzelle dieses Wirtschaftslebens''', das nur auf Sachkenntnis und Fachtüchtigkeit gegründet sein soll, die Preisbildung, wie wird sie sich vollziehen müssen?
Nicht durch den Zufall des sogenannten freien Marktes, wie es bisher
in der Volkswirtschaft und in der Weltwirtschaft der Fall war! So wird
sie sich vollziehen müssen, daß auf dem Boden von Assoziationen, die
sachgemäß zwischen den einzelnen Produktionszweigen und den Konsumgenossenschaften
entstehen, durch Menschen, die sachkundig und
fachtüchtig aus diesen Genossenschaften hervorgehen, organisch das
erreicht werde, vernünftig erreicht werde, was heute krisenhaft der
Zufall des Marktes hervorbringt. Es wird in der Zukunft, wenn die
Feststellung von Art und Charakter der menschlichen Arbeitskraft in
den Rechtsstaat fällt, ungefähr innerhalb des Wirtschaftslebens sich zutragen
müssen, daß der Mensch für irgend etwas, was er arbeitend vollbringt,
so viel an Austauschwerten erhält, daß er seine Bedürfnisse dadurch
befriedigen kann, bis er ein gleiches Produkt wieder hervorgebracht
hat.|333|85f}}


In der Forschungsliteratur ist auch von der „esoterischen Lehre“ Platons die Rede. Mit [[Esoterik]] im heute geläufigen Sinn des Wortes hat dies aber nichts zu tun, und es ist auch keine Geheimlehre gemeint. Der Begriff soll nur ausdrücken, dass die ungeschriebene Lehre für einen inneren Kreis von Philosophieschülern bestimmt war, die über die nötigen Vorkenntnisse verfügten und sich bereits mit der [[Exoterik|exoterischen]] [[Ideenlehre]] auseinandergesetzt hatten.<ref>Siehe zu dieser Terminologie Hans-Georg Gadamer: ''Platos ungeschriebene Dialektik''. In: Hans-Georg Gadamer: ''Gesammelte Werke'', Band 6: ''Griechische Philosophie II'', Tübingen 1985, S. 129–153, hier: 130; Thomas Alexander Szlezák: ''Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie'', Berlin 1985, S. 400–405; Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 139f.; Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 409.</ref>
{{GZ|Sehen Sie, bei der heutigen Struktur der Gesellschaft läßt sich
eigentlich gar nicht anders produzieren als im Hinblick auf den
Profit. Das Prinzip, zu produzieren, um zu konsumieren, das muß
erst geschaffen werden! Und von diesem Prinzip wird wiederum
abhängen, ob in einer entsprechenden Weise Wege für eine Güterverteilung
gefunden werden können. Es wird viel davon abhängen,
daß man über einen großen Bereich hin, ich möchte sagen, eine
'''wirtschaftliche Urzelle''' findet.
Diese '''wirtschaftliche Urzelle''' - ich möchte wenigstens mit ein
paar Worten kurz von ihr sprechen -, worin besteht sie denn?
Geht man nicht vom Produzieren, sondern vom Konsumieren,
von der Befriedigung der Bedürfnisse aus, so handelt es sich darum,
daß wir erst zu einem praktikablen Ergebnis dessen kommen
müssen, was im Sinne der Bedürfnisbefriedigung zu einer sachgemäßen
Preisbildung führt. Das geschieht nämlich heute in anarchisch-
chaotischer Weise durch Angebot und Nachfrage, und da
steckt viel drinnen von der Unmöglichkeit, heute überhaupt zu
etwas zu kommen. Mit der Formel von Angebot und Nachfrage
wird man nicht zu dem Ziel kommen, zu produzieren, um zu
konsumieren. Nicht wahr, um zu dem Ziel zu gelangen, ist es
notwendig, daß das, was ich produziere, im Vergleich zu anderen
Gütern so viel wert sein muß, daß ich dafür eintauschen kann,
ganz gleich, wie sich der Tausch gestaltet, alle diejenigen Güter, die
meine Bedürfnisse befriedigen bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich ein
gleiches Produkt wie jetzt hervorgebracht habe. Dabei muß dann
alles das mit eingerechnet werden, was man als Beitrag zu leisten
hat für diejenigen, die zur Zeit nicht unmittelbar selbst produzieren
können, also für Kinder, die erzogen werden müssen, für Arbeitsunfähige
und so weiter. Wovon man also ausgehen muß, das ist,
sich klar zu werden über diese '''wirtschaftliche Urzelle'''. Erst dadurch
wird es möglich, auf wirtschaftlichem Boden eine gerechte
Preisbildung zu erreichen, so daß man dann in der Zukunft nicht
wiederum, wenn man auf der einen Seite mehr verdient, auf der
anderen Seite mehr ausgeben muß, weil die Dinge selbstverständlich
unter dem Einfluß des Mehrverdienstes teurer werden.|331|128f}}


Die modernen Befürworter der Rekonstruierbarkeit der ungeschriebenen Lehre werden manchmal verkürzend und salopp als „Esoteriker“ bezeichnet, die Vertreter von skeptischen Gegenpositionen als „Anti-Esoteriker“.<ref>Beispielsweise bei Konrad Gaiser: ''Platons esoterische Lehre''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 317–340, hier: 324.</ref> Da die Rekonstruktion in erster Linie von Forschern der [[Eberhard Karls Universität Tübingen|Universität Tübingen]] unternommen und verteidigt wurde, spricht man von den „Tübingern“, der „Tübinger Schule“ oder – zur Unterscheidung von einer theologischen [[Tübinger Schule]] – von der „Tübinger Platonschule“. Das aus der Rekonstruktion resultierende neue Bild von Platons Metaphysik wird „Tübinger [[Paradigma]]“ genannt. Seit die Tübinger Platon-Interpretation in dem Mailänder Gelehrten [[Giovanni Reale]] einen engagierten Fürsprecher gefunden hat, ist auch von der „Tübinger und Mailänder Schule“ die Rede. Reale hat für die Prinzipienlehre die Bezeichnung „[[Protologie]]“ (Lehre vom Ersten) eingeführt, weil sie von den ersten Prinzipien handelt.
Die praktischen Erfahrungen mit den Urzellen und den Preisen, die sich bilden, würden dann auch eine Pauschalisierung ermöglichen, was ein Mensch generell durchschnittlich bei gegebenen Wirtschaftsverhältnissen an Einkommen benötigt, um seinen Bedarf zu decken:


== Quellenlage und Indizien ==
{{GZ|Daß aber ein wirklich auf sich selbst gestelltes
Wirtschaftsleben erst recht sorgen kann für Witwen und Waisen
und so weiter, das habe ich in meinem Buche «Die Kernpunkte der
Sozialen Frage» des breiteren ausgeführt. Ich habe es sogar vorhin
schon angedeutet, daß eingerechnet werden muß in die '''wirtschaftliche Urzelle''' dasjenige, was ein jeder als Quote beizusteuern hat zu
dem, was Witwen und Waisen, überhaupt sonstige nicht arbeitsfähige
Menschen - wie in meinem Buche ausgeführt ist, auch für die
Kinder, für die ich das Erziehungsrecht in Anspruch nehme -, zu
bekommen haben. Der Maßstab dafür wird sich ergeben einfach
aus der Lebenshaltung der übrigen Personen. Da man mit der '''wirtschaftlichen Urzelle''' einen Maßstab hat für die Lebenshaltung einer
Person nach dem bestehenden wirtschaftlichen Gesamtwohlstande,
so ist damit zu gleicher Zeit auch die Möglichkeit gegeben, einen
Maßstab zu schaffen für das Leben derjenigen, die wirklich nicht
arbeiten können.|337a|91}}


Die Argumentation für das Tübinger Paradigma erfolgt in zwei Schritten. Der erste Schritt besteht in der Präsentation der Belege und Indizien für die Existenz philosophisch relevanter Sonderinhalte von Platons mündlichem Unterricht. Damit soll gezeigt werden, dass [[Platonischer Dialog|Platons Dialoge]], die alle erhalten geblieben sind, nicht seine gesamte Philosophie darstellen, sondern nur deren zur schriftlichen Verbreitung bestimmten Teil. Im zweiten Schritt wird der Quellenbefund für die mutmaßlichen Inhalte der ungeschriebenen Lehre ausgewertet und der Versuch unternommen, ein kohärentes System zu rekonstruieren.  
Es ist nicht ganz klar, ob Steiner hier mit dem Maßstab der Lebenshaltung "einer" Person, den Bedarf der einen leistungerbringenden Person für sich allein, im Unterschied zum Famlienbedarf verstehen will, oder einen durchschnittlichen Familienbedarf. Sollen die Preise sich nicht aus [[Angebot und Nachfrage]] ergeben, sondern entsprechend den Bedarfen sich bilden, wird für die Regelung allerdings dann eine gewisse Pauschalierung notwendig werden, die von Steiner hier angedeutet ist. Es könnte da dann auch unterschiedliche Einkommensstufen oder -klassen geben. Eine unterschiedliche Entlohnung aufgrund unterschiedlicher Befähigung und daher anderem Leistungsausmaß läßt sich daraus jedoch nicht ableiten.


=== Argumente für die Existenz einer ungeschriebenen Lehre ===
== Komponenten von Bedarf, Zeitbedarf, Leistung und Preis ==
Gemäß dem Konzept der Urzelle hat man zum Verständnis der Entstehung der Preise zunächst diese Urzelle selbst näher zu untersuchen, und nicht etwa z.B. Auswirkungen von Gesamtangebot einer Ware oder nachgefragtem Bedarf. Diese gehören zu den Faktoren, die auf die Urzelle einwirken, und erst über diese Einwirkung einen Einfluß auf den Preis einer Ware haben können.


Für die Existenz einer ungeschriebenen Lehre werden hauptsächlich folgende Belege angeführt und Argumente vorgebracht:
Genauso hat die Bewertung einer Leistung in ihrer Inanspruchnahme zunächst keine Bedeutung für den Preis, da dieser sich aus Bedarf und Zeitbedarf für die Hervorbringung der Leistung ergibt. Wenn durch die Fähigkeit des Leistungserbringers die benötigte Zeit für die Produktion sich verringert, dann wird dadurch eine Ware nicht teurer, sondern billiger.  
* Stellen in der ''[[Wikipedia:Metaphysik (Aristoteles)|Metaphysik]]'' und der ''Physik'' des Aristoteles, insbesondere eine Stelle in der ''Physik'', wo er ausdrücklich auf „sogenannte ungeschriebene Lehren“ Platons Bezug nimmt.<ref>Aristoteles, ''Physik'' 209b13–15.</ref> Hierzu wird geltend gemacht, dass Aristoteles ein langjähriger Schüler Platons und Kenner des Unterrichtsbetriebs in der Akademie war und daher als gut informiert gelten kann.
* Der Bericht des [[Wikipedia:Aristoxenos|Aristoxenos]], eines Schülers des Aristoteles, über Platons öffentlichen Vortrag „Über das Gute“.<ref>Aristoxenos, ''Elementa harmonica'' 2,30–31. Text und deutsche Übersetzung bei [[Wikipedia:Heinrich Dörrie|Heinrich Dörrie]], [[Wikipedia:Matthias Baltes|Matthias Baltes]]: ''Der Platonismus in der Antike'', Band 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 74–76 (Kommentar S. 278–282).</ref> Wie Aristoxenos mitteilt, pflegte Aristoteles zu erzählen, der Vortrag habe mathematische und astronomische Darlegungen enthalten und Platon habe auch [[das Eine]] – das höchste Prinzip – thematisiert. Die letztere Angabe und der Titel des Vortrags lassen erkennen, dass es um die Prinzipienlehre ging. Nach der Darstellung des Aristoteles stieß der Vortrag bei dem philosophisch unkundigen Publikum auf Unverständnis.   
* Platons „Schriftkritik“ in den Dialogen. In mehreren unzweifelhaft echten Dialogen artikuliert Platon seine Skepsis gegenüber der Schrift als Medium des Wissenstransfers und bringt seine Bevorzugung mündlicher Wissensvermittlung zum Ausdruck. Eine ausführliche Erläuterung seiner Position bietet er im Dialog ''[[Phaidros]]''. Dort begründet er die Überlegenheit mündlicher gegenüber schriftlicher Verbreitung philosophischer Lehren mit der weitaus größeren Flexibilität des mündlichen Diskurses, die ein entscheidender Vorteil sei. Der Autor eines Textes könne sich nicht auf den Kenntnisstand und die Bedürfnisse der einzelnen Leser einstellen, er könne weder deren Fragen beantworten noch auf Kritik eingehen. All dies sei nur im Gespräch möglich; dort sei die Sprache lebendig und beseelt. Das Geschriebene sei nur ein Abbild des Gesprochenen. Das Schreiben und Lesen führe nicht nur zu einer Schwächung des Gedächtnisses, sondern sei auch zur Vermittlung von Weisheit ungeeignet; diese könne nur durch mündlichen Unterricht erfolgen. Nützlich seien geschriebene Worte nur als Gedächtnisstütze für diejenigen, die schon Bescheid wissen. Literarische Tätigkeit sei nur Spielerei. Das Wesentliche seien die persönlichen Gespräche mit Schülern, bei denen die Worte auf jeweils individuelle Weise in die Seele geschrieben würden. Nur wer so lehren könne, sei als Philosoph zu betrachten. Wer hingegen nichts „Wertvolleres“ (''timiōtera'') habe als schriftliche Texte, an deren Formulierung er lange gefeilt hat, der sei nur Schriftsteller. Das „Wertvollere“ – die Deutung dieser Stelle ist sehr umstritten – wird als Hinweis auf die ungeschriebene Lehre gedeutet.<ref>Platon, ''Phaidros'' 274b–278e. Siehe dazu Ernst Heitsch: ''Platon: Phaidros. Übersetzung und Kommentar'', Göttingen 1993, S. 188–218 und zur Frage der ''timiotera'' Thomas Alexander Szlezák: ''Zum Kontext der platonischen τιμιώτερα''. In: ''Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft'' Neue Folge 16, 1990, S. 75–85; Thomas Alexander Szlezák: ''Platon lesen'', Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 69–76, 86; Ernst Heitsch: ''ΤΙΜΙΩΤΕΡΑ''. In: Ernst Heitsch: ''Gesammelte Schriften'', Band 3, München 2003, S. 338–347; Hans Joachim Krämer: ''Die grundsätzlichen Fragen der indirekten Platonüberlieferung''. In: Hans-Georg Gadamer, Wolfgang Schadewaldt (Hrsg.): ''Idee und Zahl'', Heidelberg 1968, S. 124–128. Kritik an Heitschs ''Phaidros''-Interpretation übt Hans Krämer: ''Neue Literatur zum neuen Platonbild''. In: ''Allgemeine Zeitschrift für Philosophie'' 14, 1989, S. 59–81, hier: 59–72.</ref>
* Die Schriftkritik im [[Siebter Brief (Platon)|Siebten Brief]], dessen Echtheit umstritten ist, aber von der Tübinger Schule angenommen wird. Dort äußert sich Platon – falls er tatsächlich der Verfasser ist – zu seinen nur mündlich vermittelten Lehren (das, „womit es mir ernst ist“). Er stellt nachdrücklich fest, es gebe darüber von ihm keine Schrift und werde auch niemals eine geben, denn dieser Stoff lasse sich keineswegs so wie andere Lerngegenstände mitteilen. Vielmehr entstehe das Verständnis in der Seele aus intensiver gemeinsamer Bemühung und aus dem gemeinsamen Leben. Dies geschehe plötzlich, wie ein übergesprungener Funke ein Licht entzündet. Eine schriftliche Fixierung sei schädlich, denn sie würde nur in den Lesern Illusionen erzeugen: entweder die Verachtung von Unverstandenem oder die Arroganz des Scheinwissens.<ref>Platon, ''Siebter Brief'' 341b–342a. Siehe dazu den Kommentar von Rainer Knab: ''Platons Siebter Brief'', Hildesheim 2006, S. 261–268. Vgl. Hans Joachim Krämer: ''Die grundsätzlichen Fragen der indirekten Platonüberlieferung''. In: Hans-Georg Gadamer, Wolfgang Schadewaldt (Hrsg.): ''Idee und Zahl'', Heidelberg 1968, S. 117–124.</ref>
* Die „Aussparungsstellen“ in den Dialogen. In den Dialogen finden sich zahlreiche Stellen, an denen ein besonders wichtiges Thema zwar angesprochen, aber nicht näher erörtert wird. In manchen Fällen bricht die Diskussion gerade dort ab, wo sie sich dem Kern eines Problems nähert. Dabei geht es um Fragen, die für die Philosophie von grundlegender Bedeutung sind. Die Befürworter des Tübinger Paradigmas deuten die Aussparungsstellen als Hinweise auf Inhalte der ungeschriebenen Lehre, die in den Dialogen nur angedeutet werden können.       
* Der Umstand, dass eine Unterscheidung zwischen „exoterischem“, zur Verbreitung in weiten Kreisen bestimmtem Wissen und „esoterischem“, nur für den Unterricht in einer Schule geeignetem Stoff nicht ungewöhnlich war. Auch Aristoteles hat eine solche Unterscheidung vorgenommen.<ref>Hans Joachim Krämer: ''Die platonische Akademie und das Problem einer systematischen Interpretation der Philosophie Platons''. In: Konrad Gaiser (Hrsg.): ''Das Platonbild'', Hildesheim 1969, S. 198–230, hier: 208.</ref>
* Die in der Antike verbreitete Auffassung, dass der Gehalt derjenigen Lehren Platons, die mündlicher Mitteilung vorbehalten blieben, wesentlich über das in den Dialogen Dargelegte hinausging.
* Platons beständiger Versuch, Individuelles auf Allgemeines und Vielheit auf Einheit zurückzuführen. Mit der Ideenlehre reduzierte er die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt auf die geringere Vielfalt der den Erscheinungen zugrunde liegenden Ideen. Innerhalb des hierarchisch geordneten Ideenreichs ließ er die vielen spezielleren Ideen von den weniger zahlreichen allgemeineren, umfassenden Ideen abhängen. Daraus ergibt sich die Vermutung, dass die Einführung der Ideen nur eine Etappe auf seinem Weg von der maximalen Vielheit zur größtmöglichen Einheit war. Es läge in der Konsequenz seines Denkens, die Zurückführung von Vielheit auf Einheit zum Abschluss zu bringen. Dies müsste in einer unveröffentlichten Theorie von den höchsten Prinzipien geschehen sein.<ref>Michael Erler: ''Platon'', München 2006, S. 162–164; Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 143–148.</ref>


=== Die Quellenbasis der Rekonstruktion ===
=== Bedarf ===
Der Bedarf besteht nicht nur in dem, was der Leistungserbringer für seinen Lebensunterhalt benötigt, sondern es gehört dazu auch der Unterhalt der Angehörigen, der abhängigen Familie. Man macht  sich die Dimension dieser Preiskomponente nicht richtig klar, wenn man unter Mißachtung des Prinzips der Urzelle z.B. Krankenversicherung auf den Preis fiktiv aufschlägt, gewissermaßen, nachdem er schon der Urzelle entsprungen ist, ihn im Nachherein manipuliert. Der Aufpreis für eine Krankenversicherung kann nur ein Äquivalent sein für dasjenige am Bedarf, was für den Leistungserbringer wegen Krankheitsmöglichkeit veranschlagt werden muß.


Platon hat die schriftliche Verbreitung angeblicher Inhalte der ungeschriebenen Lehre zwar – falls der Siebte Brief echt ist – scharf missbilligt, doch gab es keine Schweigepflicht der „Eingeweihten“. Der „esoterische“ Charakter der Lehre ist nicht im Sinne einer Geheimhaltungsvorschrift oder eines Aufzeichnungsverbots zu verstehen. Vielmehr fertigten Schüler in der Akademie Aufzeichnungen an, die sie später veröffentlichten oder bei der Abfassung eigener Werke verwerteten.<ref>Siehe dazu Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 421–425.</ref> Dies spricht für die Rekonstruierbarkeit von Platons nur mündlich dargelegter Lehre anhand der „indirekten Tradition“, der Angaben anderer Autoren.
Desgleichen entsteht auch die Preiskomponente für die Alterssicherung in der Urzelle selbst, und wird nicht im nachherein aufgeschlagen. In einer unentwickelten Wirtschaft gehören zur Familie auch die Kranken und Alten. Der Leistungserbringer muß für seine Ware einen Preis erhalten, der nicht nur die Kinder, sondern auch die nicht mehr tätigen Großeltern, ''sowie auch den beschäftigten Auszubildenden'', und z.B. einen behinderten Onkel, der mit in der Familie lebt, ernähren kann.


Für die Rekonstruktion der ungeschriebenen Lehre sind vor allem folgende Quellen herangezogen worden:
Arbeiten im wirtschaftlichen Sinne (d.h. für familienfremden Bedarf) in solch einer Lebens- bzw. Hausgemeinschaft zwei Personen, dann erhöht sich dadurch selbstverständlich keineswegs der Bedarf für den Lebensunterhalt dieser Familie, abgesehen von den direkt produktionsbezogenen Bedarfen. Wenn die Partnerin eines Schusters Kleider herstellt, und die Familie daher nicht nur Schuhe produziert, sondern Schuhe ''und'' Kleider, sind dadurch die Preise für Schuhe und Kleider verbilligt.
* Die ''Metaphysik'' (Bücher Α, Μ und N) und die ''Physik'' (Buch Δ) des Aristoteles
* Fragmente von Aristoteles’ verlorenen Schriften ''Über das Gute'' und ''Über die Philosophie''
*  Die ''Metaphysik'' [[Theophrastos von Eresos|Theophrasts]], eines Schülers des Aristoteles
* Zwei Fragmente der verlorenen Schrift ''Über Platon'', die Platons Schüler Hermodoros von Syrakus verfasste<ref>Text und deutsche Übersetzung bei [[Heinrich Dörrie]], [[Matthias Baltes]]: ''Der Platonismus in der Antike'', Band 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 82–86, Kommentar S. 296–302. Siehe dazu Heinz Happ: ''Hyle'', Berlin 1971, S. 137–140.</ref> 
* Ein Fragment eines verlorenen Werks von Platons Schüler [[Speusippos]]<ref>Text und deutsche Übersetzung bei Heinrich Dörrie, Matthias Baltes: ''Der Platonismus in der Antike'', Band 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 86–89, Kommentar S. 303–305. Siehe dazu Heinz Happ: ''Hyle'', Berlin 1971, S. 142f.</ref>
* Die Schrift ''Adversus mathematicos'' des [[Sextus Empiricus]] (10. Buch). Die dort dargestellten Lehren werden von Sextus allerdings nicht ausdrücklich Platon zugeschrieben, sondern als [[Pythagoreer|pythagoreisch]] bezeichnet. Dass Platon ihr Urheber sei, ist eine nur auf Indizien gestützte [[Hypothese]].<ref>Siehe dazu Heinz Happ: ''Hyle'', Berlin 1971, S. 140–142; Marie-Dominique Richard: ''L’enseignement oral de Platon'', 2. Auflage, Paris 2005, S. 163–168; Konrad Gaiser: ''Quellenkritische Probleme der indirekten Platonüberlieferung''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 205–263, hier: 240–262; Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 343–348.</ref>
* Platons Dialoge ''[[Politeia]]'' und ''[[Parmenides (Platon)|Parmenides]]''. Wenn man Platon aufgrund der indirekten Tradition die Prinzipienlehre zuschreibt, erscheinen manche Äußerungen und Gedankengänge in diesen beiden Dialogen in einem anderen Licht. Die so interpretierten Dialogtexte tragen dann ihrerseits zur schärferen Konturierung des Bildes von der Prinzipienlehre bei. Auch Erörterungen in anderen Dialogen – etwa dem ''[[Philebos]]'' und dem ''[[Timaios]]'' – können dann anders verstanden und in das System des Tübinger Paradigmas eingeordnet werden. Sogar in frühen Dialogen sind Anspielungen auf die Prinzipienlehre vermutet worden.<ref>Jens Halfwassen: ''Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin'', 2. Auflage, Leipzig 2006, S. 31f. und Anm. 73; Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 257–313.</ref>


== Der mutmaßliche Inhalt ==
=== Zeitbedarf ===
Gemäß diesem Konzept der wirtschaftlichen Urzelle ist der Preis einer Ware umso höher, je mehr Zeit für ihre Produktion benötigt wird. Dafür ist es zunächst unerheblich, ob durch andere Produzenten die Ware billiger produziert werden kann, weil sie weniger Zeit dafür benötigen. Wenn der Schuster für ein paar Schuhe eine Woche benötigt, wird der Preis für ''diese'' paar Schuhe dem Bedarf für eine Woche Lebensunterhalt entsprechen müssen. Dabei ist es völlig egal, ob andere Schuster für das betreffende Wirtschaftsgebiet Schuhe gleicher Qualität an einem Tag schaffen können. Wenn man nun meint, ein Preis für die Schuhe, der 1 Woche Lebensunterhalt entspricht, sei zu hoch, worauf könnte sich so ein Urteil gründen?


Die Befürworter des Tübinger Paradigmas haben sich anhand der verstreuten Angaben und Indizien in den Quellen intensiv um die Rekonstruktion der Prinzipienlehre bemüht. Sie sehen in dieser Lehre das Kernstück der Philosophie Platons. Obwohl viele wichtige Einzelheiten unbekannt oder strittig sind, zeichnet sich ein relativ geschlossenes Bild ihrer Grundzüge ab.<ref>Übersichtsdarstellungen geben Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 425–429 und Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 295–340.</ref> Ein wichtiger Aspekt des Tübinger Paradigmas ist die Annahme, dass die ungeschriebene Lehre nicht zusammenhanglos neben der geschriebenen steht, sondern dass zwischen ihnen eine enge und notwendige Verbindung besteht.
Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, hat sich aber strikt am Prinzip der Urzelle zu orientieren, und nicht etwa an der Beobachtung, daß die Nachfrage nach preisgünstigen Schuhen höher ist als diejenige nach teuren.


Sofern das Tübinger Paradigma der authentischen Lehre Platons entspricht, hat er mit der Prinzipienlehre in der Metaphysik einen neuen Weg beschritten. In der Ideenlehre hatte er manche Vorstellungen der [[Eleaten]], einer Richtung der [[Vorsokratiker]], aufgegriffen. Die Prinzipienlehre hingegen bricht mit der Grundüberzeugung der Eleaten, wonach nichts über dem vollkommenen, unwandelbaren Sein steht. Sie ersetzt diese Vorstellung durch das neuartige Konzept einer absoluten [[Transzendenz]], das über das Sein hinausführt. Jenseits der seienden Dinge wird ein schlechthin vollkommener Bereich des „Überseienden“ oder „Seinstranszendenten“ angenommen. Dort soll der Ursprung aller seienden Dinge zu suchen sein. „Seinstranszendent“ nennt man das, was das Sein transzendiert (übersteigt), das heißt: sich auf einer höheren Ebene als die seienden Dinge befindet. In einem solchen Modell ist alles Seiende als solches in gewisser Hinsicht unvollkommen, da der Übergang vom absolut transzendenten Übersein zum Sein bereits eine Einschränkung der ursprünglichen absoluten Vollkommenheit darstellt.
Ein Grund dafür, daß der Schuster eine ganze Woche für ein paar Schuhe benötigt, könnte sein, daß der Schuster in Teilzeit arbeitet. Er arbeitet z.B. nicht wie die anderen Schuster "Vollzeit", angenommen 40 Stunde die Woche, sondern nur ein 1/7 davon, ca. 6 Stunden die Woche.  


=== Die beiden Urprinzipien und ihr Zusammenwirken ===
Fall 1.
Die übrigen 6/7 verwendet der Schuster auf ein anderes Produktionsgebiet, er ist nämlich auch Schneider. Als Schneider arbeitet er ca. 34 Stunden die Woche.


Mit der Ideenlehre führt Platon die sinnlich wahrnehmbare Welt auf vollkommene, unveränderliche [[Idee]]n zurück. Für ihn ist das Reich der „platonischen“ Ideen eine objektiv existierende metaphysische Realität, die unabhängig vom Dasein der Sinnesobjekte besteht. Die Ideen, nicht die Objekte der Sinneserfahrung, stellen die eigentliche Wirklichkeit dar. Sie sind die im eigentlichen Sinne seienden Dinge. Als prägende Muster der einzelnen vergänglichen Sinnesobjekte sind sie die Ursachen von deren Beschaffenheit und verleihen ihnen die Existenz.
Fall 2.
Da der Schuster im fortgeschrittenen Alter ist, etwas altersschwach, kann er nicht mehr so schnell arbeiten wie in den besten Jahren. Er braucht die doppelte Zeit wie früher, arbeitet aber weiterhein "Vollzeit".


So wie die Ideenlehre die Existenz und Vielfalt der Erscheinungswelt erklären soll, dient die Prinzipienlehre als einheitliche Erklärung für die Existenz und Vielfalt des Ideenreichs. Die Zusammenfügung der beiden Theorien zielt somit auf ein vereinheitlichtes Modell von allem. Mit der Prinzipienlehre wird die Existenz der Ideen und damit auch diejenige der Sinnesobjekte auf nur zwei Urprinzipien zurückgeführt.<ref>Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 199–201; Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 425; Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 190.</ref>
Fall 3.
Da der Schuster im fortgeschrittenen Alter ist, etwas altersschwach, kann er nicht mehr 8 Stunden pro Tag arbeiten, er arbeitet 5 Tage á 4 Stunden, "Teilzeit", aber so schnell wie früher. Das Paar Schuhe ist nach einer Woche fertig wie in Fall 2.


Die beiden fundamentalen Urprinzipien sind das Eine als Prinzip der Einheit und Bestimmtheit und die „unbegrenzte“ oder „unbestimmte“ Zweiheit (''ahóristos dyás''). Die unbestimmte Zweiheit soll Platon als „das Große und Kleine“ oder „das Groß-Kleine“ (''to méga kai to mikrón'') beschrieben haben.<ref>Aristoteles, ''Metaphysik'' 987b; vgl. ''Physik'' 209b–210a.</ref> Sie ist das Prinzip der Verminder- und Vermehrbarkeit, des Zweideutigen und Unbestimmten und der Vielheit. Dabei handelt es sich nicht um Unbegrenztheit im Sinne einer räumlichen oder quantitativen Unendlichkeit, sondern die Unbestimmtheit besteht im Fehlen einer Festlegung und damit einer Gestaltung. Mit der Bezeichnung „unbestimmt“ wird die Zweiheit als Urprinzip von der bestimmten Zweiheit – der Zahl Zwei – unterschieden und als meta-mathematisch gekennzeichnet.<ref>Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 205–207.</ref>
Fall 4.
Der Schuster ist jung und arbeitet auch am Wochenende sowie abends, insgesamt 100 Stunden die Woche. Das paar Schuhe ist gleichwohl erst in einer Woche fertig, da der Schuster das Produktionsverfahren ''während der Produktion der Schuhe'' optimiert.


Die Einheit und die unbestimmte Zweiheit sind die Anfangsgründe von allem, denn aus ihrem Zusammenwirken resultiert die Ideenwelt und damit die Gesamtwirklichkeit. Die ganze Mannigfaltigkeit der Sinnesphänomene beruht letztlich auf nur zwei Faktoren. Die formgebende Einheit ist die erzeugende Instanz, die formlose unbestimmte Zweiheit dient der Wirksamkeit der Einheit als Substrat. Ohne das Substrat könnte die Einheit nichts hervorbringen. Alles Sein beruht darauf, dass das Eine auf die unbestimmte Zweiheit einwirkt, indem sie dem Formlosen Grenzen setzt, ihm Form und Merkmale verleiht und damit als [[Individuationsprinzip]] die einzelnen [[Entität]]en in die Existenz bringt. In allem Seienden liegt eine Mischung der beiden Urprinzipien vor.<ref>Heinrich Dörrie, Matthias Baltes: ''Der Platonismus in der Antike'', Band 4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 154–162 (Quellen mit Übersetzung), 448–458 (Kommentar); Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 426f.</ref>
Fall 5.
Der Schuster benötigt 3,5 Tage für die Produktion der Schuhe. In den übrigen 3,5 Tagen widmet er sich der Aufgabe, das Produktionsverfahren zu optimieren, produziert in dieser halben Woche also keine Schuhe.


Je nachdem, ob das eine oder das andere Urprinzip überwiegt, herrscht in den Entitäten Ordnung oder Unordnung vor. Je chaotischer etwas ist, desto stärker tritt darin die Präsenz des Zweiheitsprinzips hervor.<ref>Hans Joachim Krämer: ''Arete bei Platon und Aristoteles'', Heidelberg 1959, S. 144f.; Konrad Gaiser: ''Platons ungeschriebene Lehre'', 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 18f.; Michael Erler: ''Platon'', München 2006, S. 167.</ref>
Fall 6.
Der Schuster arbeitet nicht wie gewöhnlich 40 Stunden die Woche, sondern eine Zeitlang 80 Stunden die Woche, und lagert die zusätzlich produzierten Schuhe. Nach einem Jahr stehen 52 paar Schuhe im Lager. Im folgenden Jahr läßt er die 52 Paar von einem Händler abholen, und widmet sich ausschließlich der Kindererziehung, sowie Renovierung der Privatwohnung und dergleichen.


Nach dem Tübinger Paradigma prägt das Konzept der beiden gegensätzlichen Urprinzipien nicht nur die [[Ontologie]], sondern auch die [[Logik]], die [[Ethik]], die [[politische Philosophie]], die [[Kosmologie]], die [[Erkenntnistheorie]] und die [[Seele]]nlehre Platons. In der Ontologie entspricht dem Prinzipiengegensatz der Gegensatz von Sein und Nichtsein; je mehr sich in einem Ding der Einfluss des Zweiheitsprinzips geltend macht, desto geminderter ist sein Sein und desto niedriger daher sein ontologischer Rang. In der Logik steht die Einheit für Identität und Gleichheit, die unbestimmte Zweiheit für Verschiedenheit und Ungleichheit. Der ethischen Einstufung zufolge bedeutet die Einheit „Gutheit“ ''([[Arete|aretḗ]])'', die unbestimmte Zweiheit Schlechtigkeit. Im Staat ist die Einheit der Bürger das, was ihn zum Staat macht und seinen Fortbestand ermöglicht, während die Zweiheit sich als das spaltende, chaotisierende und auflösende Prinzip bemerkbar macht. In der Kosmologie zeigt sich die Einheit in der Ruhe, in der Beständigkeit und Ewigkeit der Welt, aber auch in der Belebtheit des Kosmos und im planmäßigen Handeln des Schöpfergottes ([[Demiurg]]en); die unbestimmte Zweiheit ist dort das Prinzip der Bewegung und Veränderung, insbesondere der Vergänglichkeit und speziell des Todes. Erkenntnistheoretisch steht die Einheit für das philosophische Wissen, das auf Kenntnis der unwandelbaren platonischen Ideen beruht, die unbestimmte Zweiheit für das von den Sinneseindrücken abhängige bloße Meinen. Im Seelenleben entspricht der Einheit die Vernunft, der unbestimmten Zweiheit der Bereich der Triebe und körpergebundenen [[Affekt]]e.<ref>Konrad Gaiser: ''Platons ungeschriebene Lehre'', 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 18f., 73–81; Vittorio Hösle: ''Wahrheit und Geschichte'', Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, S. 490–506; Hans Joachim Krämer: ''Arete bei Platon und Aristoteles'', Heidelberg 1959, S. 279f., 287f.</ref>
Fall 7.
Wie 6, jedoch ohne private Haushaltsproduktion, und statt dessen 1 Jahr "[[wikipedia:Sabbatical|Sabbatical]]".


=== Monismus und Dualismus ===
Fall 8.
Wie 7, jedoch anstatt 80 Stunden, arbeitet der Schuster nur 40 Stunden, es gibt also keine zusätzlichen 52 Paar, die ein Händler abholen kann. Trotzdem gönnt sich der Schuster ein Jahr sabattical.


Die Annahme zweier Urprinzipien wirft die Frage auf, ob die Prinzipienlehre und damit im Fall ihrer Authentizität Platons gesamte Philosophie [[Monismus|monistisch]] oder [[Dualismus (Ontologie)|dualistisch]] ist. Monistisch ist das Modell, falls dem Gegensatz zwischen der Einheit und der unbestimmten Zweiheit ein einziges Prinzip zugrunde liegt. Dies ist der Fall, wenn das Vielheitsprinzip auf das Einheitsprinzip zurückgeführt und diesem dadurch untergeordnet wird. Eine andere monistische Interpretation der Prinzipienlehre besteht in der Annahme einer übergeordneten Meta-Einheit, die den beiden gegensätzlichen Prinzipien zugrunde liegt und sie vereinigt. Wenn hingegen die unbegrenzte Zweiheit als für sich getrennt bestehendes, von jeglicher Einheit unabhängiges Urprinzip aufgefasst wird, handelt es sich um eine dualistische Lehre.
Fall 9.
Der Schuster hat einen Sohn, der im Betrieb mitarbeitet, der aber, obwohl fleißig, nicht sonderlich befähigt ist, sodaß ein Teil der Schuhe mit Fehlern behaftet sind, die in der Folge zum Schuster zwecks Reparatur zurückgebracht werden.


Den Angaben der Quellen lässt sich nicht eindeutig entnehmen, wie man sich das Verhältnis der beiden Urprinzipien vorzustellen hat. Klar ist immerhin, dass dem Einen ein höherer Rang zugewiesen wird als der unbestimmten Zweiheit<ref>Christina Schefer: ''Platons unsagbare Erfahrung'', Basel 2001, S. 186f.</ref> und dass nur das Eine als absolut transzendent betrachtet wird. Dies spricht für eine monistische Interpretation der Prinzipienlehre und passt zu Äußerungen Platons in seinen Dialogen, die eine monistische Denkweise erkennen lassen. Im Dialog ''[[Menon]]'' schreibt er, dass alles in der Natur unter sich verwandt sei,<ref>Platon, ''Menon'' 81c–d.</ref> und in der ''[[Politeia]]'' ist zu lesen, dass es einen Ursprung (''[[Arché|archḗ]]'') von allem gebe, den die Vernunft ergreifen könne.<ref>Platon, ''Politeia'' 511b.</ref>
=== Leistung ===
=== Preis ===


Bei den Befürwortern des Tübinger Paradigmas sind die Meinungen zu dieser Frage geteilt.<ref>Eine Forschungsübersicht bietet Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 428f.</ref> Nach dem vorherrschenden Lösungsansatz betrachtete Platon zwar die unbestimmte Zweiheit als unentbehrlichen Grundbestandteil der Weltordnung, nahm aber ein allem übergeordnetes Einheitsprinzip an und war daher Monist. Diese Position haben [[Jens Halfwassen]], Detlef Thiel und [[Vittorio Hösle]] ausführlich begründet.<ref>Jens Halfwassen: ''Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre''. In: Thomas Alexander Szlezák (Hrsg.): ''Platonisches Philosophieren'', Hildesheim 2001, S. 67–85; Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 197–208; Vittorio Hösle: ''Wahrheit und Geschichte'', Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, S. 459–506.</ref> Nach Halfwassens Lösung kann Platons unbestimmte Zweiheit nicht aus dem Einen abgeleitet werden, da sie damit ihren Status als Urprinzip verlöre und weil das absolut transzendente Eine keine latente Vielheit in sich enthalten könne. Die unbestimmte Zweiheit ist aber dem Einen nicht gleichursprünglich und gleichmächtig, sondern von ihm abhängig. Damit erweise sich Platons Philosophie als letztlich monistisch. [[John Niemeyer Findlay]] plädiert ebenfalls nachdrücklich für ein monistisches Verständnis der Prinzipienlehre.<ref>John N. Findlay: ''Plato. The Written and Unwritten Doctrines'', London 1974, S. 322–325.</ref> Für Cornelia de Vogel ist der monistische Aspekt der Lehre der überwiegende.<ref>Cornelia J. de Vogel: ''Rethinking Plato and Platonism'', Leiden 1986, S. 83f., 190–206.</ref> Von einem System mit teils monistischen, teils dualistischen Zügen gehen [[Hans Krämer (Philosoph)|Hans Joachim Krämer]]<ref>Hans Joachim Krämer: ''Der Ursprung der Geistmetaphysik'', 2. Auflage, Amsterdam 1967, S. 329–334; Hans Joachim Krämer: ''Neues zum Streit um Platons Prinzipientheorie''. In: ''[[Philosophische Rundschau]]'' 27, 1980, S. 1–38, hier: 27.</ref> und [[Konrad Gaiser]]<ref>Konrad Gaiser: ''Platons ungeschriebene Lehre'', 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 10, 12f., 200f., 352; Konrad Gaiser: ''Platons esoterische Lehre''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 317–340, hier: 330f.</ref> aus. Christina Schefer meint, der Prinzipien-Gegensatz sei logisch unaufhebbar und weise daher über sich hinaus. Er verweise auf eine „unsagbare“ intuitive Urerfahrung, die Platon gemacht habe: die Erfahrung des Gottes [[Apollon]] als des gemeinsamen Grundes hinter den beiden Urprinzipien.<ref>Christina Schefer: ''Platons unsagbare Erfahrung'', Basel 2001, S. 57–60.</ref> Auch dieser Ansatz läuft somit auf eine monistische Gesamtkonzeption hinaus.
== Siehe auch ==
 
[[Preisbildung]]
Obwohl die Prinzipienlehre nach der heute vorherrschenden Forschungsmeinung als letztlich monistisches System angelegt ist, hat sie auch einen dualistischen Aspekt. Dieser wird von den Vertretern monistischer Interpretationen nicht bestritten, doch meinen sie, dass er der monistischen Gesamtstruktur untergeordnet ist. Die dualistische Seite des Konzepts besteht darin, dass nicht nur die Einheit, sondern auch die unbestimmte Zweiheit als Urprinzip aufgefasst wird. Diese Ursprünglichkeit der Zweiheit betont Giovanni Reale. Er hält aber den Begriff Dualismus für unpassend und spricht lieber von einer „bipolaren Struktur des Wirklichen“. Dabei berücksichtigt Reale aber auch, dass die beiden Pole nicht gleichgewichtig sind. Er stellt fest, dass die Einheit „der Zweiheit hierarchisch überlegen bleibt“.<ref>Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 207f., 309–311.</ref> Gegen jede Ableitung der Zweiheit aus einem übergeordneten Einheitsprinzip und damit für einen konsequenten Dualismus Platons plädieren [[Heinz Happ]],<ref>Heinz Happ: ''Hyle'', Berlin 1971, S. 141–143.</ref> Marie-Dominique Richard<ref>Marie-Dominique Richard: ''L’enseignement oral de Platon'', 2. Auflage, Paris 2005, S. 231f.</ref> und Paul Wilpert.<ref>Paul Wilpert: ''Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre'', Regensburg 1949, S. 173–174.</ref> Sie glauben, dass ein ursprünglicher Dualismus Platons später monistisch umgedeutet worden sei.   
 
Wenn die Prinzipienlehre authentisch und ihre monistische Deutung richtig ist, erhält Platons Metaphysik einen Charakter, der stark an die [[Neuplatonismus|neuplatonischen]] Modelle aus der [[Römische Kaiserzeit|römischen Kaiserzeit]] erinnert. In diesem Fall ist das neuplatonische Verständnis seiner Philosophie in einem zentralen Bereich historisch richtig. Dann ist der Neuplatonismus weniger neuartig, als er ohne die Prinzipienlehre erschiene. Vertreter des Tübinger Paradigmas weisen auf diese Konsequenz hin. Sie sehen in [[Plotin]], dem Begründer des Neuplatonismus, den konsequenten Fortsetzer einer von Platon selbst begründeten Denkrichtung. Plotins metaphysisches System sei in seinen Grundzügen schon der Generation von Platons Schülern vertraut gewesen. Dies entspricht Plotins eigener Sichtweise, denn er betrachtete sich nicht als Neuerer, sondern als getreuen Ausleger der Lehre Platons.<ref>Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 197f. und Anm. 64; Jens Halfwassen: ''Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin'', 2. Auflage, Leipzig 2006, S. 17–33, 183–210.</ref>
 
=== Das Gute in der ungeschriebenen Lehre ===
 
Ein wichtiges Forschungsproblem ist die umstrittene Frage nach der Stellung der [[Das Gute|Idee des Guten]] in dem metaphysischen System, das sich aus der Kombination von Ideenlehre und rekonstruierter Prinzipienlehre ergibt. Die Klärung dieser Frage hängt davon ab, wie man den Status deutet, den Platon der Idee des Guten im Rahmen der Ideenlehre zugedacht hat. In der ''Politeia'' grenzt er sie scharf von den übrigen Ideen ab. Er weist ihr eine einzigartige Vorrangstellung zu, denn nach seiner Überzeugung verdanken alle anderen Ideen ihr Sein dieser einen Idee. Somit sind sie ihr ontologisch untergeordnet.<ref>Eine Zusammenfassung einschlägiger Aussagen in der ''Politeia'' bietet Thomas Alexander Szlezák: ''Die Idee des Guten in Platons Politeia'', Sankt Augustin 2003, S. 111f. Übersichten über die Positionen in der Forschungskontroverse bieten Rafael Ferber: ''Ist die Idee des Guten nicht transzendent oder ist sie es doch? Nochmals Platons ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ''. In: Damir Barbarić (Hrsg.): ''Platon über das Gute und die Gerechtigkeit'', Würzburg 2005, S. 149–174, hier: 149–156 und Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 402–404.</ref>   
 
Den Ausgangspunkt der Forschungskontroverse bildet das umstrittene Verständnis des griechischen Begriffs [[Ousia]] – wörtlich „Seiendheit“ –, der gewöhnlich mit „Sein“ oder „Wesen“ wiedergegeben wird. In der ''Politeia'' ist zu lesen, das Gute sei „nicht die Ousia“, sondern „jenseits der Ousia“ und übertreffe sie an Ursprünglichkeit<ref>Griechisch ''presbeía'' „Altersvorrang“, auch mit „Würde“ übersetzt.</ref> und Macht.<ref>Platon, ''Politeia'' 509b.</ref> Wenn hier nur das Wesen gemeint ist oder wenn die Stelle frei ausgelegt wird, lässt sich die Idee des Guten innerhalb des Ideenbereichs, des Bereichs der seienden Dinge, verorten. In diesem Fall kommt ihr keine absolute Transzendenz zu. Sie ist dann nicht seinstranszendent oder überseiend, sondern nimmt nur unter den seienden Dingen eine Vorrangstellung ein.<ref>Abgelehnt wird die Seinstranszendenz der Idee des Guten u. a. von Theodor Ebert: ''Meinung und Wissen in der Philosophie Platons'', Berlin 1974, S. 169–173, Matthias Baltes: ''Is the Idea of the Good in Plato’s Republic Beyond Being?'' In: Matthias Baltes: ''Dianoemata. Kleine Schriften zu Platon und zum Platonismus'', Stuttgart 1999, S. 351–371 und Luc Brisson: ''L’approche traditionelle de Platon par H.F. Cherniss''. In: Giovanni Reale, Samuel Scolnicov (Hrsg.): ''New Images of Plato'', Sankt Augustin 2002, S. 85–97.</ref> Nach dieser Interpretation ist sie nicht Gegenstand der Prinzipienlehre, sondern nur der Ideenlehre. Wenn hingegen mit Ousia das Sein gemeint ist und die Stelle wörtlich ausgelegt wird, ist „jenseits der Ousia“ im Sinne von Seinstranszendenz zu verstehen.<ref>Eine zusammenfassende Darstellung dieser Position bietet Thomas Alexander Szlezák: ''Die Idee des Guten in Platons Politeia'', Sankt Augustin 2003, S. 67f. Vgl. Rafael Ferber: ''Ist die Idee des Guten nicht transzendent oder ist sie es doch? Nochmals Platons ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ''. In: Damir Barbarić (Hrsg.): ''Platon über das Gute und die Gerechtigkeit'', Würzburg 2005, S. 149–174, hier: 154–160 und Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 275–281.</ref> Dieser Deutung zufolge hat Platon die Idee des Guten als absolut transzendent betrachtet. Dann muss sie in den Bereich, mit dem sich die Prinzipienlehre befasst, eingeordnet werden.
 
Falls Platon die Idee des Guten als seinstranszendent aufgefasst hat, stellt sich das Problem ihres Verhältnisses zum Einen. Die meisten Verfechter der Existenz der ungeschriebenen Lehre meinen, dass das Eine und die Idee des Guten für Platon identisch waren. Ihrer Argumentation zufolge ergibt sich die Identität daraus, dass es im Bereich der absoluten Transzendenz keine Bestimmungen und damit auch keine Unterscheidung zweier Prinzipien geben kann. Außerdem berufen sich die Vertreter der Identitätshypothese auf Angaben des Aristoteles.<ref>Jens Halfwassen: ''Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin'', 2. Auflage, Leipzig 2006, S. 21–23 und S. 221 Anm. 4; Thomas Alexander Szlezák: ''Die Idee des Guten in Platons Politeia'', Sankt Augustin 2003, S. 70f.; Hans Krämer: ''Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis (Buch VI 504a–511e)''. In: [[Otfried Höffe]] (Hrsg.): ''Platon: Politeia'', 3. Auflage, Berlin 2011, S. 135–153, hier: 142–145; Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 258–280; Konrad Gaiser: ''Plato’s enigmatic lecture ‚On the Good’''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 265–294, hier: 265–268.</ref> Eine abweichende Meinung vertritt [[Rafael Ferber]]; er geht zwar von der Existenz einer ungeschriebenen Lehre aus, deren Gegenstand das Gute gewesen sei, aber lehnt die Gleichsetzung des Guten mit dem Einen ab.<ref>Rafael Ferber: ''Platos Idee des Guten'', 2., erweiterte Auflage, Sankt Augustin 1989, S. 76–78.</ref>
 
=== Die idealen Zahlen ===
 
Dem Bericht des Aristoxenos über Platons Vortrag „Über das Gute“ ist zu entnehmen, dass Ausführungen über die Zahlenlehre einen wesentlichen Teil der Argumentation ausmachten.<ref>Aristoxenos, ''Elementa harmonica'' 30.</ref> Diese Thematik hat demnach in der ungeschriebenen Lehre eine wichtige Rolle gespielt. Es handelt sich dabei nicht um Mathematik, sondern um eine Philosophie der Zahlen. Platon unterscheidet zwischen den mathematischen Zahlen und metaphysischen „idealen“ (eidetischen) Zahlen. Im Gegensatz zu mathematischen Zahlen lassen sich metaphysische keinen arithmetischen Operationen unterziehen. Beispielsweise ist, wenn es um ideale Zahlen geht, mit der Zwei nicht die Zahl 2, sondern das Wesen der Zweiheit gemeint.<ref>Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 211, 219–221; Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 210f.; Hans Joachim Krämer: ''Arete bei Platon und Aristoteles'', Heidelberg 1959, S. 250f.</ref>
 
Die idealen Zahlen nehmen eine Mittelstellung zwischen den Urprinzipien und den Ideen ein. Sie stellen die ersten Entitäten dar, die aus den Urprinzipien hervorgehen. Das Hervorgehen ist – wie bei allen metaphysischen Erzeugungen – nicht zeitlich als Ereignis, sondern nur im Sinne einer ontologischen Abhängigkeit zu verstehen. Beispielsweise entsteht aus dem Zusammenwirken des Einen – des bestimmenden Faktors – und der unbestimmten Zweiheit – des Vielheitsprinzips – die Zweiheit im Bereich der idealen Zahlen. Diese ist als Produkt der beiden gegensätzlichen Urprinzipien von beiden geprägt: Sie ist die bestimmte Zweiheit. Ihre Bestimmtheit zeigt sich darin, dass sie das Verhältnis zwischen einem bestimmten Übertreffenden (dem Doppelten) und einem bestimmten Übertroffenen (dem Halben) ausdrückt. Sie ist keine Zahl, sondern eine Beziehung zwischen zwei Größen, von denen die eine das Doppelte der anderen ausmacht.<ref>Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 212f.; Rafael Ferber: ''Platos Idee des Guten'', 2., erweiterte Auflage, Sankt Augustin 1989, S. 162–206; Konrad Gaiser: ''Platons ungeschriebene Lehre'', 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 117–123.</ref>
 
Indem das Eine als bestimmender Faktor auf die unbestimmte Zweiheit, die in der Prinzipienlehre „das Große und Kleine“ genannt wird, einwirkt, eliminiert es deren Unbestimmtheit, die jedes Verhältnis zwischen Großem und Kleinem, Übertreffendem und Übertroffenem einschließt. So erzeugt das Eine durch Bestimmung der unbestimmten Vielheit die bestimmten Größenverhältnisse, die in der Prinzipienlehre als ideale Zahlen aufgefasst werden. Es entsteht die bestimmte Zweiheit, die je nach Betrachtungsperspektive als Doppeltheit oder Halbheit erscheint. Ebenso werden auch die übrigen idealen Zahlen aus den Urprinzipien abgeleitet. In den idealen Zahlen ist die Raumstruktur angelegt, aus ihnen ergeben sich die Dimensionen des Räumlichen. Wesentliche Einzelheiten dieser überzeitlichen „Entstehungsvorgänge“ sind aber nicht überliefert; wie man sie sich vorzustellen hat, wird in der Forschung kontrovers diskutiert.<ref>Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 211–218. Zu den Einzelheiten siehe Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 212–217, 221–225. Vgl. Rafael Ferber: ''Platos Idee des Guten'', 2., erweiterte Auflage, Sankt Augustin 1989, S. 206–208; Konrad Gaiser: ''Platons ungeschriebene Lehre'', 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 81–88; Hans Joachim Krämer: ''Arete bei Platon und Aristoteles'', Heidelberg 1959, S. 251–256, 261–265; [[Julia Annas]]: ''Aristotle’s Metaphysics. Books M and N'', Oxford 1976, S. 42–62.</ref> 
 
=== Erkenntnistheoretische Aspekte ===
 
Aussagen über das höchste Prinzip zählte Platon zum Zuständigkeitsbereich des [[Dialektik]]ers, des methodisch folgernden Philosophen. Somit hat er die Prinzipienlehre – falls er ihr Urheber ist – auf diskursivem Weg entwickelt und argumentativ begründet. Dabei ergab sich für ihn, dass ein höchstes Prinzip notwendig sei; er hat das Eine indirekt aus dessen Wirkungen erschlossen. Ob oder inwieweit er außerdem einen unmittelbaren Zugang zum absolut transzendenten Bereich der ursprünglichen Einheit für möglich gehalten oder gar für sich in Anspruch genommen hat, ist in der Forschung umstritten. Es stellt sich die Frage, ob sich im Rahmen seiner Lehre aus der Seinstranszendenz eine Erkenntnistranszendenz ergeben musste oder ob er das höchste Prinzip zumindest theoretisch für erkennbar hielt.<ref>Eine Übersicht über die einschlägigen Forschungsdebatten bietet Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 370–372.</ref>
 
Auf diskursivem Weg konnte Platon nur bis zur Einsicht gelangen, dass das höchste Prinzip zwar ein Erfordernis seiner Metaphysik ist, dass dem absolut Transzendenten aber mit den Mitteln des Verstandes –  der Dialektik – nicht beizukommen ist. Somit blieb ihm für ein Erfassen des Einen – und des Guten, falls er dieses mit dem Einen gleichsetzte – nur die Möglichkeit eines intuitiven Zugangs.<ref>Konrad Gaiser: ''Platons ungeschriebene Lehre'', 3. Auflage, Stuttgart 1998, S. 4f.; Konrad Gaiser: ''Platons esoterische Lehre''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 317–340, hier: 331–335.</ref> Strittig ist, ob er diesen Weg tatsächlich beschritten hat. Wenn er es getan hat, bedeutete dies, auf den Anspruch zu verzichten, im philosophischen Diskurs über jeden Erkenntnisschritt Rechenschaft ablegen zu können. Hinsichtlich der Idee des Guten schließt [[Michael Erler]] aus Äußerungen in der ''Politeia'', dass Platon sie für intuitiv erkennbar gehalten hat.<ref>Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 370–372.</ref> Gegen eine eigenständige Rolle der Intuition im Erkenntnisprozess wenden sich hingegen u. a. [[Peter Stemmer]],<ref>Peter Stemmer: ''Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge'', Berlin 1992, S. 214–225; S. 220 Anm. 116 Aufzählung weiterer Gegner der Intuitionshypothese.</ref> [[Kurt von Fritz]]<ref>Kurt von Fritz: ''Beiträge zu Aristoteles'', Berlin 1984, S. 56f.</ref> und Jürgen Villers.<ref>Jürgen Villers: ''Das Paradigma des Alphabets. Platon und die Schriftbedingtheit der Philosophie'', Würzburg 2005, S. 231–233.</ref> [[Jens Halfwassen]] meint, dass die Intuition zwar als ein unmittelbares Erfassen durch nichtsinnliche Anschauung für die Erkenntnis der Ideenwelt eine zentrale Rolle spiele, das höchste Prinzip aber erkenntnistranszendent sei. Das Eine sei für Platon zwar das Prinzip der Erkennbarkeit und der Erkenntniskraft, es selbst aber bleibe jeder Erkenntnis und Sagbarkeit entzogen.<ref>Jens Halfwassen: ''Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin'', 2. Auflage, Leipzig 2006, S. 224–234, 247–262, 400–404.</ref> Auch Christina Schefer geht davon aus, dass Platon sowohl in der geschriebenen als auch in der ungeschriebenen Lehre einen wie auch immer gearteten philosophischen Zugang zum absolut Transzendenten ausgeschlossen hat. Nach ihrer Hypothese hat Platon diesen Zugang aber auf einem anderen Weg gefunden: in einer „unsagbaren“ religiösen Erfahrung, der [[Theophanie]] des Gottes [[Apollon]].<ref>Christina Schefer: ''Platons unsagbare Erfahrung'', Basel 2001, S. 60ff.</ref> Sie trägt Indizien für ihre Ansicht vor, wonach im Zentrum von Platons Weltbild weder die Ideenlehre noch die Prinzipienlehre gestanden habe, sondern die Apollon-Erfahrung, die keinen Lehrinhalt begründete. Das Tübinger Paradigma sei zwar tatsächlich ein wichtiger Bestandteil von Platons Philosophie, aber die Prinzipienlehre führe in [[Aporie]]n (Ausweglosigkeiten), in eine [[Paradoxon|Paradoxie]] und damit in eine Sackgasse.<ref>Christina Schefer: ''Platons unsagbare Erfahrung'', Basel 2001, S. 5–62.</ref> Platons Äußerungen sei jedoch zu entnehmen, dass er einen Ausweg gefunden habe, der über die Prinzipienlehre hinausführe. In dieser Platon-Deutung erhält somit auch die ungeschriebene Lehre den Charakter von etwas Vorläufigem.<ref>Anderer Meinung ist hierzu Hans Joachim Krämer: ''Arete bei Platon und Aristoteles'', Heidelberg 1959, S. 464f.</ref>
 
Hinsichtlich der Gewissheit, mit der Platon die Prinzipienlehre für wahr hielt, gehen in der Forschung die Meinungen weit auseinander. Die Tübinger Schule unterstellt ihm einen erkenntnistheoretischen Optimismus. Besonders weit geht dabei Hans Krämer. Er ist der Ansicht, Platon habe für sich selbst mit dem höchsten möglichen Gewissheitsgrad den Anspruch auf eine Erkenntnis der Wahrheit dieser Lehre erhoben, sei also bezüglich der ungeschriebenen Lehre „Dogmatiker“ gewesen. Andere Forscher, darunter insbesondere Rafael Ferber, vertreten die Gegenposition, wonach die ungeschriebene Lehre für Platon nur eine möglicherweise irrige Hypothese war.<ref>Rafael Ferber: ''Hat Plato in der „ungeschriebenen Lehre“ eine „dogmatische Metaphysik und Systematik“ vertreten?'' In: ''Méthexis'' 6, 1993, S. 37–54; Christopher Gill: ''Platonic Dialectic and the Truth-Status of the Unwritten Doctrines''. In: ''Méthexis'' 6, 1993, S. 55–72.</ref> Konrad Gaiser meint, Platon habe die ungeschriebene Lehre zusammenhängend formuliert und als in sich geschlossene Konzeption vorgetragen, aber nicht als „Summe von dogmatisch feststehenden, doktrinär vertretenen, autoritär verkündeten Lehrsätzen“, sondern als kritisch überprüfbares, verbesserungsfähiges, auf ständige Weiterentwicklung angelegtes Modell.<ref>Konrad Gaiser: ''Prinzipientheorie bei Platon''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 295–315, hier: 295f.</ref>     
 
Wesentlich ist für Platon die Verknüpfung der Erkenntnistheorie mit der Ethik. Er betont, dass der Zugang zu den mündlich vermittelten Einsichten nur jenen Seelen offenstehe, welche die charakterlichen Voraussetzungen erfüllten. Der Philosoph, der mündlichen Unterricht erteile, habe jeweils zu prüfen, ob beim Schüler die erforderliche charakterliche Disposition vorhanden sei. Es gehe nicht um ein Begreifen mit dem Intellekt; vielmehr werde die Einsicht als Frucht langwieriger Bemühungen von der gesamten Seele erworben. Zwischen der Seele, der etwas vermittelt werden soll, und dem, was ihr zu vermitteln ist, müsse eine innere Verwandtschaft bestehen.<ref>Christina Schefer: ''Platons unsagbare Erfahrung'', Basel 2001, S. 49–56.</ref>
 
== Die Datierungsfrage und die historische Einordnung ==
 
Umstritten ist, wann Platon seinen öffentlichen Vortrag über das Gute gehalten hat.<ref>Eine Übersicht über die gegensätzlichen Positionen bietet Marie-Dominique Richard: ''L’enseignement oral de Platon'', 2. Auflage, Paris 2005, S. 72–76.</ref> Für die Befürworter des Tübinger Paradigmas hängt damit die Frage zusammen, ob die ungeschriebene Lehre zu Platons Spätwerk gehört oder schon relativ früh ausgearbeitet wurde. Bei der Beantwortung dieser Frage spielt auch der Gegensatz zwischen „Unitariern“ und „Revisionisten“ eine Rolle. Während die Unitarier meinen, Platon habe in der Metaphysik durchgängig eine kohärente Position vertreten, unterscheiden die Revisionisten verschiedene Entwicklungsphasen seines Denkens und nehmen an, dass er durch auftauchende Probleme genötigt worden sei, seine Auffassung gravierend zu ändern.
 
In der älteren Forschung herrschte die Auffassung, „Über das Gute“ sei eine „Altersvorlesung“ gewesen, die Platon an seinem Lebensende gehalten habe. Die Entstehung der ungeschriebenen Lehre wurde meist in die späte Phase seiner philosophischen Aktivität gesetzt. In der neueren Forschung mehren sich jedoch die Stimmen für eine Frühdatierung der ungeschriebenen Lehre. Dies kommt dem Ansatz der Unitarier entgegen. Ob schon frühe Dialoge Anspielungen auf die ungeschriebene Lehre enthalten, ist umstritten.<ref>Siehe zur Forschungsgeschichte Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 419f.</ref> 
 
Der herkömmlichen Einordnung des öffentlichen Vortrags als Altersvorlesung widerspricht Hans Krämer energisch. Er meint, der Vortrag sei in der Frühzeit von Platons Lehrtätigkeit gehalten worden. Außerdem sei „Über das Gute“ nicht nur eine einmalige öffentliche Vorlesung gewesen. Vielmehr handle es sich um eine Vortragsreihe, von der nur der erste, einführende Vortrag versuchsweise vor einem breiteren, unvorbereiteten Publikum gehalten worden sei. Nach dem Fehlschlag des öffentlichen Auftritts habe Platon die Konsequenz gezogen, diesen Stoff nur noch Philosophieschülern zu unterbreiten. Die Vorträge über das Gute mit Diskussion hätten eine Gesprächsreihe gebildet, mit der Platon jahrzehntelang regelmäßig seinen Schülern die ungeschriebene Lehre zu erläutern und plausibel zu machen versucht habe. Dies habe er bereits zur Zeit seiner ersten Sizilienreise (um 389/388) getan, also schon vor der Gründung der Akademie.<ref>Hans Joachim Krämer: ''Arete bei Platon und Aristoteles'', Heidelberg 1959, S. 20–24, 404–411, 444. Später hat Krämer diese Auffassung bekräftigt; siehe seine Aufsätze ''Neues zum Streit um Platons Prinzipientheorie''. In: ''Philosophische Rundschau'' 27, 1980, S. 16–18 Anm. 33, ''Aristoxenos über Platons ΠΕΡΙ ΤΑΓΑΘΟΥ''. In: ''[[Hermes (Zeitschrift)|Hermes]]'' 94, 1966, S. 111–112 und ''Die grundsätzlichen Fragen der indirekten Platonüberlieferung''. In: Hans-Georg Gadamer, Wolfgang Schadewaldt (Hrsg.): ''Idee und Zahl'', Heidelberg 1968, S. 112–115. Anderer Meinung ist [[Philip Merlan]]: ''War Platons Vorlesung „Das Gute“ einmalig?'' In: ''Hermes'' 96, 1968, S. 705–709. Vgl. Margherita Isnardi Parente: ''La akroasis di Platone''. In: ''[[Museum Helveticum]]'' 46, 1989, S. 146–162 und Margherita Isnardi Parente: ''L’eredità di Platone nell’accademia antica'', Milano 1989, S. 34–36.</ref> 
 
Von den Philosophiehistorikern, die den öffentlichen Vortrag spät datieren, sind verschiedene zeitliche Eingrenzungen vorgeschlagen worden: der Zeitraum 359/355 ([[Karl-Heinz Ilting]]),<ref>Karl-Heinz Ilting: ''Platons ‚Ungeschriebene Lehren’: der Vortrag ‚über das Gute’''. In: ''Phronesis'' 13, 1968, S. 1–31, hier: 5, 30.</ref> der Zeitraum 360/358 ([[Hermann Schmitz (Philosoph)|Hermann Schmitz]]),<ref>Hermann Schmitz: ''Die Ideenlehre des Aristoteles'', Band 2: ''Platon und Aristoteles'', Bonn 1985, S. 312–314, 339f.</ref> um 352 (Detlef Thiel)<ref>Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 180f.</ref> und die Zeit zwischen [[Dion von Syrakus|Dions]] Tod 354 und Platons Tod 348/347 (Konrad Gaiser). Gaiser betont dabei, dass er seine Spätdatierung des öffentlichen Vortrags nicht mit der Annahme verbindet, die ungeschriebene Lehre sei spät entstanden. Vielmehr sei diese Lehre schon früh in der Akademie Unterrichtsstoff gewesen, wohl bereits zur Zeit von Platons Schulgründung.<ref>Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 280–282, 290, 304, 311. Gaisers Datierung wird mit weiteren Argumenten unterstützt von Walter Eder: ''Die ungeschriebene Lehre Platons: Zur Datierung des platonischen Vortrags „Über das Gute“''. In: Hansjörg Kalcyk u.a. (Hrsg.): ''Studien zur Alten Geschichte'', Bd. 1, Rom 1986, S. 207–235, hier: 222–235.</ref>
 
Unklar ist, warum Platon anspruchsvolle Inhalte der ungeschriebenen Lehre öffentlich vor einem philosophisch ungebildeten Publikum vortrug, bei denen er – wie nicht anders zu erwarten – auf Unverständnis stieß. Gaiser vermutet, dass er vor die Öffentlichkeit trat, um verzerrten Darstellungen der ungeschriebenen Lehre entgegenzutreten und damals kursierende Gerüchte zu entkräften, denen zufolge die Akademie ein Hort staatsfeindlicher Umtriebe war.<ref>Konrad Gaiser: ''Plato’s enigmatic lecture ‚On the Good’''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 265–294, hier: 282–291. Zustimmung findet Gaiser bei Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 174–181.</ref>
 
== Rezeption ==
=== Nachwirkung bis zum Beginn der Moderne ===
 
In der Generation von Platons Schülern war die Erinnerung an seinen mündlichen, von manchen Schülern aufgezeichneten Unterricht noch lebendig. Sie beeinflusste das heute großenteils verlorene philosophische Schrifttum dieser Zeit. Auf entschiedenen Widerspruch stieß die ungeschriebene Lehre bei Aristoteles, der sich in zwei nur fragmentarisch erhaltenen Abhandlungen – ''Über das Gute''  (drei Bücher) und ''Über die Philosophie'' – mit ihr auseinandersetzte und unter anderem auch in seinen Werken ''Metaphysik'' und ''Physik'' auf das Thema einging. Auch Aristoteles’ Schüler Theophrast befasste sich in seiner ''Metaphysik'' damit.<ref>Siehe aber zur Schwierigkeit der Interpretation von Theophrasts Darstellung Margherita Isnardi Parente: ''Théophraste, Metaphysica 6 a 23 ss.'' In: ''Phronesis'' 16, 1971, S. 49–64. Vgl. Marie-Dominique Richard: ''L’enseignement oral de Platon'', 2. Auflage, Paris 2005, S. 103–105, 152–158.</ref> 
 
Als sich in der Epoche des [[Hellenismus]] der [[Skeptizismus]] in der Akademie durchsetzte, konnte prinzipientheoretisches Lehrgut – soweit es noch bekannt war – kaum noch Interesse finden. Diese Ausrichtung des Interesses änderte sich zwar in der Zeit des [[Mittelplatonismus]] und des Neuplatonismus, doch war den damaligen Philosophen anscheinend von der Prinzipienlehre nicht viel mehr bekannt als den modernen Gelehrten.<ref>Konrad Gaiser: ''Prinzipientheorie bei Platon''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 295–315, hier: 297f.</ref>   
 
Nach der Wiederentdeckung der im [[Mittelalter]] verschollenen Originaltexte Platons in der [[Renaissance]] dominierte in der [[Frühe Neuzeit|Frühen Neuzeit]] ein vom Neuplatonismus geprägtes Bild der Metaphysik Platons, zu dem auch die aus Aristoteles’ Darstellung bekannten Grundzüge der Prinzipienlehre gehörten. Zum Vorherrschen der neuplatonischen Platon-Interpretation hatte insbesondere der [[Renaissance-Humanismus|Humanist]] [[Marsilio Ficino]] (1433–1499) mit seinen Übersetzungen und kommentierenden Schriften beigetragen. Noch der einflussreiche populärwissenschaftliche Schriftsteller und Platon-Übersetzer [[Thomas Taylor (Schriftsteller)|Thomas Taylor]] (1758–1835) ordnete sich in diese Tradition der Platondeutung ein. Zwar wurde das neuplatonische Paradigma im 18. Jahrhundert zunehmend als problematisch eingeschätzt, doch gelang es nicht, es durch eine konsistente Alternative zu ersetzen.<ref>Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 65f.</ref> Die Existenz der ungeschriebenen Lehre wurde weiterhin akzeptiert; [[Wilhelm Gottlieb Tennemann]] stellte in seiner 1792–95 erschienenen Untersuchung ''System der Platonischen Philosophie'' fest, Platon habe nie beabsichtigt, seine Philosophie vollständig schriftlich darzustellen.     
 
=== 19. Jahrhundert ===
 
Im 19. Jahrhundert begann eine bis heute anhaltende Forschungsdiskussion um die Frage, ob es tatsächlich eine ungeschriebene Lehre gab, die gegenüber den Dialogen einen philosophischen Überschuss aufweist.
 
[[Datei:Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.jpg|miniatur|Friedrich Schleiermacher]]
Nachdem bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts das neuplatonische Paradigma vorgeherrscht hatte, führte [[Friedrich Schleiermacher]] mit der 1804 publizierten Einleitung zu seiner Platonübersetzung<ref>Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: ''Über die Philosophie Platons'', hrsg. und eingeleitet von Peter M. Steiner, Hamburg 1996, S. 21–119.</ref> eine radikale Wende herbei, deren Folgen bis in die Gegenwart spürbar sind. Schleiermacher war der Überzeugung, der gesamte Gehalt von Platons Philosophie sei in den Dialogen enthalten. Eine inhaltlich darüber hinausgehende mündliche Lehre habe es nicht gegeben. Nach Schleiermachers Verständnis ist die Dialogform kein literarischer Zusatz zur platonischen Philosophie, sondern Form und Inhalt sind untrennbar verbunden; das platonische Philosophieren ist seiner Natur nach ausschließlich dialogisch darstellbar. Damit ist eine ungeschriebene Lehre mit philosophisch relevanten Sonderinhalten ausgeschlossen.<ref>Siehe dazu Thomas Alexander Szlezák: ''Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804''. In: ''[[Antike und Abendland]]'' 43, 1997, S. 46–62.</ref> 
 
Schleiermachers Auffassung fand bald breite Zustimmung und setzte sich durch.<ref>[[Gyburg Uhlmann|Gyburg Radke]]: ''Das Lächeln des Parmenides'', Berlin 2006, S. 1–5.</ref> Zu ihren vielen Befürwortern zählte [[Eduard Zeller]], ein führender Philosophiehistoriker des 19. Jahrhunderts, der in seinem nachhaltig einflussreichen Handbuch ''Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung'' Argumente gegen die „angebliche Geheimlehre“ vorbrachte.
 
Zwar stieß Schleiermachers strikte Ablehnung einer mündlichen Lehre von Anfang an auch auf Widerspruch, doch blieben die Kritiker vereinzelt. 1808 teilte der später berühmte [[Gräzistik|Gräzist]] [[August Boeckh]] in einer Rezension von Schleiermachers Platonübersetzung mit, dass ihn die Argumente gegen die ungeschriebene Lehre nicht überzeugen. Es gebe eine große Wahrscheinlichkeit, dass Platon „ein Esoterisches hatte“, Lehren, über die er sich in seinen Schriften nicht unverhohlen äußerte, sondern nur in dunklen Winken; „was er hier nicht bis zur höchsten Spitze hinaufgeführt hatte, diesem setzte er im mündlichen Unterrichte den Gipfel und den Schlussstein auf“.<ref>August Boeckh: ''Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher''. In: August Boeckh: ''Gesammelte kleine Schriften'', Band 7, Leipzig 1872, S. 1–38, hier: 6f.</ref> [[Christian August Brandis]] sammelte und kommentierte die Quellenaussagen zur ungeschriebenen Lehre,<ref>Christian August Brandis: ''Diatribe academica de perditis Aristotelis libris de ideis et de bono sive philosophia'', Bonn 1823.</ref> [[Friedrich Adolf Trendelenburg]] und [[Christian Hermann Weisse]] wiesen in ihren Untersuchungen auf die Bedeutung dieser Überlieferung hin.<ref>Friedrich Adolf Trendelenburg: ''Platonis de ideis et numeris doctrina ex Aristotele illustrata'', Leipzig 1826; Christian Hermann Weisse: ''De Platonis et Aristotelis in constituendis summis philosophiae principiis differentia'', Leipzig 1828.</ref> Auch [[Karl Friedrich Hermann]] wandte sich in einer 1849 publizierten Untersuchung über Platons schriftstellerische Motive gegen Schleiermachers These, indem er die Ansicht vertrat, Platon habe den Kern seiner Lehre in den Schriften nur angedeutet und auf direkte Weise nur mündlich dargelegt.<ref>Karl-Friedrich Hermann: ''Über Platos schriftstellerische Motive''. In: Konrad Gaiser (Hrsg.): ''Das Platonbild'', Hildesheim 1969, S. 33–57 (Nachdruck).</ref>
 
=== 20. und 21. Jahrhundert ===
 
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war in der Platonforschung die „antiesoterische“ Richtung die eindeutig vorherrschende. Allerdings nahmen schon vor der Jahrhundertmitte einige Forscher an, dass es eine nur mündlich vermittelte Lehre Platons gegeben hat. Zu ihnen zählten [[John Burnet (Philologe)|John Burnet]], [[Julius Stenzel]], [[Alfred Edward Taylor]], Léon Robin, Paul Wilpert und [[Heinrich Gomperz]]. Seit 1959 konkurriert das detailliert ausgearbeitete „Tübinger Paradigma“ mit der „antiesoterischen“ Interpretation. 
 
'''Harold Cherniss'''
 
Im 20. Jahrhundert war der profilierteste Vertreter der „antiesoterischen“ Richtung [[Harold Cherniss]]. Er bezog schon ab 1942 Stellung, also vor der Erarbeitung und Veröffentlichung des Tübinger Paradigmas. Sein Hauptanliegen war die Entkräftung der Glaubwürdigkeit von Aristoteles’ Angaben, die er auf dessen antiplatonische Haltung und auf Missverständnisse zurückführte. Cherniss meinte, Aristoteles gebe im Rahmen seiner Polemik gegen Platon dessen Auffassung verfälschend wieder und widerspreche sich dabei selbst. Er bestritt rundweg einen inhaltlichen Überschuss von Platons mündlichen Lehren gegenüber den Dialogen. Moderne Hypothesen über den philosophischen Unterricht in der Akademie seien haltlose Spekulationen. Es bestehe ein grundlegender Widerspruch zwischen der Ideenlehre der Dialoge und den Angaben des Aristoteles. Platon habe durchgängig die Ideenlehre vertreten und es gebe kein plausibles Argument für die Annahme, dass er sie durch den angeblichen Inhalt einer ungeschriebenen Lehre fundamental modifiziert habe. Der Siebte Brief komme als Quelle nicht in Betracht, da er unecht sei.<ref>Die Publikationen, in denen Cherniss seine Position darlegt, sind ''Die ältere Akademie. Ein historisches Rätsel und seine Lösung'', Heidelberg 1966 (Übersetzung von: ''The Riddle of the Early Academy'', Berkeley 1945; enthält drei Vorträge von 1942) und ''Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy'', Bd. 1, Baltimore 1944. Eingehende Kritik an Cherniss’ Position übt Hans Joachim Krämer: ''Arete bei Platon und Aristoteles'', Heidelberg 1959, S. 380–447. Kritisch äußert sich auch Cornelia J. de Vogel: ''Probleme der späteren Philosophie Platons''. In: Jürgen Wippern (Hrsg.): ''Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons'', Darmstadt 1972, S. 41–87.</ref>           
 
'''Die antisystematische Interpretation von Platons Philosophie'''
 
Im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist es zu einer Radikalisierung von Schleiermachers „dialogischem“ Ansatz gekommen. Zahlreiche Forscher haben sich für eine „antisystematische“ Interpretationsweise ausgesprochen, die auch als „Dialogtheorie“ bekannt ist. Diese Richtung verwirft jede Art von „dogmatischer“ Platondeutung und insbesondere die Möglichkeit einer „esoterischen“ ungeschriebenen Lehre. Sie wendet sich grundsätzlich gegen die Annahme, Platon habe eine bestimmte systematische Lehre besessen und als Wahrheit verkündet. Die antisystematischen Ansätze stimmen darin überein, dass das Wesentliche am platonischen Philosophieren nicht die Durchsetzung einzelner, für wahr befundener inhaltlicher Positionen sei, sondern die gemeinsame dialogische Reflexion und speziell die Erprobung von Analysemethoden. Dieses Philosophieren sei – was schon Schleiermacher betont hatte – durch seine Prozesshaftigkeit charakterisiert, deren Dynamik den Leser zum Weiterdenken anrege. Es ziele nicht auf dogmatisch fixierte endgültige Wahrheiten, sondern bestehe in einem nie zum Abschluss kommenden Fragen und Antworten. Diese Weiterentwicklung von Schleiermachers Dialogtheorie kehrte sich schließlich gegen ihn selbst: Ihm wurde vorgeworfen, aus den Dialogen zu Unrecht eine systematische Philosophie herausgelesen zu haben.<ref>Zur Nachwirkung von Schleiermachers Sichtweise siehe Gyburg Radke: ''Das Lächeln des Parmenides'', Berlin 2006, S. 1–62. Eine Zusammenfassung der Kernpunkte der modernen Dialogtheorie gibt Thomas Alexander Szlezák: ''Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie'', Berlin 1985, S. 332–336 (und Kritik daran S. 337–375).</ref>
 
Einen Widerspruch zwischen Platons prinzipieller Schriftkritik und der Annahme, er habe seine gesamte Philosophie schriftlich der Öffentlichkeit mitgeteilt, sehen die Befürworter der antisystematischen Interpretation nicht. Sie meinen, die Schriftkritik beziehe sich nur auf Lehrschriften. Da die Dialoge keine Lehrschriften sind, sondern den Stoff in der Gestalt fiktiver Gespräche darbieten, seien sie nicht von der Schriftkritik betroffen.<ref>Franco Ferrari: ''Les doctrines non écrites''. In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques'', Band 5, Teil 1 (= V a), Paris 2012, S. 648–661, hier: 658. Vgl. Hans Joachim Krämer: ''Retraktationen zum Problem des esoterischen Platon''. In: ''Museum Helveticum'' 21, 1964, S. 137–167, hier: 148f.; Thomas Alexander Szlezák: ''Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie'', Berlin 1985, S. 342–347, 376–400; Konrad Gaiser: ''Schriftlichkeit und Mündlichkeit''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 29–41, hier: 31–39.</ref>
 
'''Die Entstehung und Verbreitung des Tübinger Paradigmas'''
 
Bis in die fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts stand die Frage, ob man aus den Quellenzeugnissen auf die tatsächliche Existenz einer ungeschriebenen Lehre schließen darf, im Mittelpunkt der Diskussion. Seit die Tübinger Schule ihr neues Paradigma vorgetragen hat, dreht sich die lebhafte und kontroverse Debatte überdies um die Tübinger Hypothese, wonach die ungeschriebene Lehre in ihren Grundzügen rekonstruierbar ist und die Rekonstruktion den Kern von Platons Philosophie erschließt.
 
Das Tübinger Paradigma wurde erstmals von Hans Joachim Krämer formuliert und eingehend begründet. Er veröffentlichte seine Ergebnisse 1959 in einer umgearbeiteten Fassung seiner von [[Wolfgang Schadewaldt]] betreuten Dissertation von 1957.<ref>Hans Joachim Krämer: ''Arete bei Platon und Aristoteles'', Heidelberg 1959, S. 380–486.</ref> 1963 habilitierte sich Konrad Gaiser, der ebenso wie Krämer ein Schüler Schadewaldts war, in Tübingen mit einer umfangreichen Monographie über die ungeschriebene Lehre.<ref>Konrad Gaiser: ''Platons ungeschriebene Lehre'', Stuttgart 1963, 2. Auflage mit neuem Nachwort Stuttgart 1968.</ref> In der Folgezeit erläuterten und verteidigten die beiden Tübinger Gelehrten das Paradigma in einer Reihe von Publikationen.<ref>Die wichtigsten einschlägigen Arbeiten Krämers sind aufgelistet bei Jens Halfwassen: ''Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre''. In: ''Bochumer philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter'' 2, 1997, S. 1–21, hier: S. 1f. Anm. 1. Mehrere Aufsätze Gaisers sind zusammengestellt in dem Band Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004.</ref>
 
[[Datei:Szlezák.jpg|miniatur|hochkant|Thomas A. Szlezák, ein profilierter Vertreter der Tübinger Schule]]
Weitere namhafte Vertreter des Paradigmas sind [[Thomas Alexander Szlezák]], der von 1990 bis 2006 ebenfalls in Tübingen lehrte und sich insbesondere mit der Schriftkritik und den Aussparungsstellen befasst hat,<ref>Thomas Alexander Szlezák: ''Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie'', Berlin 1985, S. 327–410; Thomas Alexander Szlezák: ''Zur üblichen Abneigung gegen die agrapha dogmata''. In: ''Méthexis'' 6, 1993, S. 155–174; Thomas Alexander Szlezák: ''Die Idee des Guten in Platons Politeia'', Sankt Augustin 2003, S. 5–14, 133–146; Thomas Alexander Szlezák: ''Platon lesen'', Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 27–30, 42–48, 56–105, 148–155.</ref> der Heidelberger Philosophiehistoriker [[Jens Halfwassen]], der vor allem die Geschichte der Prinzipienlehre vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum Neuplatonismus erforscht hat, und [[Vittorio Hösle]].<ref>Vittorio Hösle: ''Wahrheit und Geschichte'', Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, S. 374–392.</ref> Zustimmung zum Tübinger Platonbild kam etwa von [[Michael Erler]],<ref>Michael Erler: ''Platon'', München 2006, S. 162–171.</ref> Jürgen Wippern,<ref>Jürgen Wippern: ''Einleitung''. In: Jürgen Wippern (Hrsg.): ''Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons'', Darmstadt 1972, S. VII–XLVIII.</ref> [[Karl Albert (Philosoph)|Karl Albert]],<ref>Karl Albert: ''Platon und die Philosophie des Altertums'', Teil 1, Dettelbach 1998, S. 380–398.</ref> [[Heinz Happ]],<ref>Heinz Happ: ''Hyle'', Berlin 1971, S. 85–94, 136–143.</ref> [[Willy Theiler]],<ref>Willy Theiler: ''Untersuchungen zur antiken Literatur'', Berlin 1970, S. 460–483, hier: 462f.</ref> [[Klaus Oehler]],<ref>Klaus Oehler: ''Die neue Situation der Platonforschung''. In: Thomas Alexander Szlezák (Hrsg.): ''Platonisches Philosophieren'', Hildesheim 2001, S. 31–46; Klaus Oehler: ''Der entmythologisierte Platon''. In: ''[[Zeitschrift für philosophische Forschung]]'' 19, 1965, S. 393–420.</ref> [[Hermann Steinthal]],<ref>Hermann Steinthal: ''Ungeschriebene Lehre''. In: [[Christian Schäfer (Philosoph)|Christian Schäfer]] (Hrsg.): ''Platon-Lexikon'', Darmstadt 2007, S. 291–296. Steinthal hält es aber nicht für wahrscheinlich, dass man den Inhalt der ungeschriebenen Lehre „in feststehenden Lehrsätzen mit mehr oder weniger dürren Worten wiedergeben kann“; sie sei nichts Endgültiges gewesen, sondern habe Unfertigkeiten enthalten; siehe Hermann Steinthal: ''Zur Form der mündlich-persönlichen Lehre Platons''. In: ''Grazer Beiträge'' 23, 2000, S. 59–70, hier: 68f. Vgl. Hermann Steinthal: ''Sieben Erwägungen zur Ungeschriebenen Lehre Platons''. In: ''[[Gymnasium (Zeitschrift)|Gymnasium]]'' 111, 2004, S. 359–379.</ref> [[John Niemeyer Findlay]],<ref>John N. Findlay: ''Plato. The Written and Unwritten Doctrines'', London 1974, S. 6f., 19–23, 80, 350f., 455–473.</ref> Marie-Dominique Richard,<ref>Marie-Dominique Richard: ''L’enseignement oral de Platon'', 2. Auflage, Paris 2005, S. 235–242.</ref> [[Herwig Görgemanns]],<ref>Herwig Görgemanns: ''Platon'', Heidelberg 1994, S. 113–119.</ref> [[Walter Eder]],<ref>Walter Eder: ''Die ungeschriebene Lehre Platons: Zur Datierung des platonischen Vortrags „Über das Gute“''. In: Hansjörg Kalcyk u.a. (Hrsg.): ''Studien zur Alten Geschichte'', Bd. 1, Rom 1986, S. 207–235, hier: 209.</ref> [[Josef Seifert]],<ref>Siehe Seiferts Nachwort in Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons'', 2. Auflage, Paderborn 2000, S. 541–558, hier: 558.</ref> Joachim Söder,<ref>Joachim Söder: ''Zu Platons Werken''. In: [[Christoph Horn]] u. a. (Hrsg.): ''Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung'', Stuttgart 2009, S. 19–59, hier: 29f.</ref> [[Carl Friedrich von Weizsäcker]],<ref>Carl Friedrich von Weizsäcker: ''Der Garten des Menschlichen'', 2. Auflage, München 1977, S. 337; Carl Friedrich von Weizsäcker: ''Platon. Ein Versuch''. In: [[Enno Rudolph]] (Hrsg.): ''Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon'', Darmstadt 1996, S. 123–143, hier: 123f., 127f.</ref> Detlef Thiel<ref>Detlef Thiel: ''Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie'', München 2006, S. 137–225.</ref> und – mit einem neuen, weitergehenden Ansatz – Christina Schefer,<ref>Christina Schefer: ''Platons unsagbare Erfahrung'', Basel 2001, S. 2–4, 10–14, 225.</ref> mit Vorbehalt auch von Cornelia J. de Vogel,<ref>Cornelia J. de Vogel: ''Rethinking Plato and Platonism'', Leiden 1986, S. 190–206.</ref> Rafael Ferber,<ref>Rafael Ferber: ''Warum hat Platon die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben?'', 2. Auflage, München 2007 (mit Forschungsbericht S. 80–84).</ref> [[John M. Dillon]],<ref>John M. Dillon: ''The Heirs of Plato'', Oxford 2003, S. VII, 1, 16–22.</ref> Jürgen Villers,<ref>Jürgen Villers: ''Das Paradigma des Alphabets. Platon und die Schriftbedingtheit der Philosophie'', Würzburg 2005, S. 215–250. Villers sieht in der Prinzipienlehre eine mit innerer Widersprüchlichkeit behaftete und daher nicht systematisierbare Arbeitshypothese Platons.</ref> Christopher Gill,<ref>Christopher Gill: ''Platonic Dialectic and the Truth-Status of the Unwritten Doctrines''. In: ''Méthexis'' 6, 1993, S. 55–72.</ref> Enrico Berti<ref>Enrico Berti: ''Über das Verhältnis von literarischem Werk und ungeschriebener Lehre bei Platon in der Sicht der neueren Forschung''. In: Jürgen Wippern (Hrsg.): ''Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons'', Darmstadt 1972, S. 88–94; Enrico Berti: ''Eine neue Rekonstruktion der ungeschriebenen Lehre Platons''. In: Jürgen Wippern (Hrsg.): ''Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons'', Darmstadt 1972, S. 240–258; Enrico Berti: ''Nuovi studi aristotelici'', Bd. 2: ''Fisica, antropologia e metafisica'', Brescia 2005, S. 539–551.</ref> und [[Hans-Georg Gadamer]].<ref>Hans-Georg Gadamer: ''Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief''. In: Hans-Georg Gadamer: ''Gesammelte Werke'', Band 6: ''Griechische Philosophie II'', Tübingen 1985, S. 90–115, hier: 111–113; Hans-Georg Gadamer: ''Platos ungeschriebene Dialektik''. In: Hans-Georg Gadamer: ''Gesammelte Werke'', Band 6: ''Griechische Philosophie II'', Tübingen 1985, S. 11–13, 28. Vgl. Giuseppe Girgenti (Hrsg.): ''Platone tra oralità e scrittura. Un dialogo di Hans-Georg Gadamer con la Scuola di Tubinga e Milano e altri studiosi (Tubinga, 3 settembre 1996)'', Milano 2001, S. 9–15.</ref> Da der Mailänder Philosophiehistoriker Giovanni Reale in einer eingehenden Untersuchung das Tübinger Paradigma weiterentwickelt hat, spricht man heute auch von einer „Tübinger und Mailänder Schule“.<ref>Rafael Ferber: ''Warum hat Platon die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben?'', 2. Auflage, München 2007, S. 81; Michael Erler: ''Platon'' (= Hellmut Flashar (Hrsg.): ''Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 409. Giovanni Reales einschlägiges Hauptwerk ''Per una nuova interpretazione di Platone'' liegt auch in deutscher Sprache vor: ''Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen Lehren“'', 2. Auflage, Paderborn 2000.</ref> In Italien haben sich auch Maurizio Migliori<ref>Maurizio Migliori: ''Dialettica e Verità'', Milano 1990, S. 69–90. Vgl. Giovanni Reale (Hrsg.): ''Autotestimonianze e rimandi dei dialoghi di Platone alle „dottrine non scritte“'', Milano 2008, S. 252–254.</ref> und Giancarlo Movia<ref>Giancarlo Movia: ''Apparenze, essere e verità'', Milano 1991, S. 43, 60f.</ref> für die Authentizität der ungeschriebenen Lehre ausgesprochen. Nachdrücklich tritt Reales Schülerin Patrizia Bonagura für das Tübinger Paradigma ein.<ref>Patrizia Bonagura: ''Exterioridad e interioridad. La tensión filosófico-educativa de algunas páginas platónicas'', Pamplona 1991, S. 33–54.</ref>
 
'''Die Kritik am Tübinger Paradigma'''
 
Unterschiedliche skeptische Gegenpositionen haben besonders im englischsprachigen, aber auch im deutschsprachigen Raum Resonanz gefunden.<ref>Einige dieser Positionen sind zusammenfassend dargestellt bei Marie-Dominique Richard: ''L’enseignement oral de Platon'', 2. Auflage, Paris 2005, S. 30–35. Zu den englischsprachigen „Antiesoterikern“ siehe Thomas Alexander Szlezák: ''Schleiermachers „Einleitung“ zur Platon-Übersetzung von 1804''. In: ''Antike und Abendland'' 43, 1997, S. 46–62, hier: 61f.</ref> In den USA haben [[Gregory Vlastos]] und Reginald E. Allen gegen die Tübinger Platondeutung Stellung genommen,<ref>Gregory Vlastos: ''Platonic Studies'', 2. Auflage, Princeton 1981, S. 379–403; Reginald E. Allen: ''Plato’s Parmenides'', Oxford 1983, S. 272.</ref> in Italien Franco Trabattoni<ref>Franco Trabattoni: ''Scrivere nell’anima'', Firenze 1994.</ref> und Francesco Fronterotta.<ref>Francesco Fronterotta: ''Une énigme platonicienne: La question des doctrines non-écrites''. In: ''Revue de philosophie ancienne'' 11, 1993, S. 115–157.</ref> In Frankreich hat dem Tübinger Paradigma Luc Brisson<ref>Luc Brisson: ''Premises, Consequences, and Legacy of an Esotericist Interpretation of Plato''. In: ''Ancient Philosophy'' 15, 1995, S. 117–134; Luc Brisson: ''Lectures de Platon'', Paris 2000, S. 43–110.</ref> widersprochen, in Schweden Eugène Napoléon Tigerstedt.<ref>Eugène Napoléon Tigerstedt: ''Interpreting Plato'', Stockholm 1977, S. 63–91. Eine Gegenargumentation bietet Hans Krämer: ''Neues zum Streit um Platons Prinzipientheorie''. In: ''Philosophische Rundschau'' 27, 1980, S. 1–38, hier: 14–22.</ref>  Zu den deutschsprachigen Kritikern zählen [[Theodor Ebert (Philosoph)|Theodor Ebert]],<ref>Theodor Ebert: ''Meinung und Wissen in der Philosophie Platons'', Berlin 1974, S. 2–4.</ref> [[Ernst Heitsch]],<ref>Ernst Heitsch: ''ΤΙΜΙΩΤΕΡΑ''. In: Ernst Heitsch: ''Gesammelte Schriften'', Band 3, München 2003, S. 338–347.</ref> Fritz-Peter Hager<ref>Fritz-Peter Hager: ''Zur philosophischen Problematik der sogenannten ungeschriebenen Lehre Platos''. In: ''Studia philosophica'' 24, 1964, S. 90–117. Hager hält die Prinzipienlehre für unvereinbar mit Platons in den Dialogen dargestellter Philosophie. Eine Gegenargumentation bietet Hans Joachim Krämer: ''Die grundsätzlichen Fragen der indirekten Platonüberlieferung''. In: Hans-Georg Gadamer, Wolfgang Schadewaldt (Hrsg.): ''Idee und Zahl'', Heidelberg 1968, S. 107f. Anm. 9.</ref> und [[Günther Patzig]].<ref>Günther Patzig: ''Platons politische Ethik''. In: Günther Patzig: ''Gesammelte Schriften'', Band 3, Göttingen 1996, S. 32–54, hier: S. 36 Anm. 3. Vgl. die Kritik von Hans Krämer: ''Kritische Bemerkungen zu den jüngsten Äußerungen von W. Wieland und G. Patzig über Platons ungeschriebene Lehre''. In: ''Rivista di Filosofia neo-scolastica'' 74, 1982, S. 579–592, hier: 586–592.</ref>
 
Eine radikal skeptische Position lautet, Platon habe mündlich nichts gelehrt, was nicht in den Dialogen steht. Gemäßigte Skeptiker gehen zwar von einer ungeschriebenen Lehre aus, kritisieren aber die Tübinger Rekonstruktion als spekulativ, unzureichend begründet und zu weitreichend.<ref>Dies ist beispielsweise die Meinung von [[Michael Bordt]]; siehe Michael Bordt: ''Platon'', Freiburg 1999, S. 51–53.</ref> Manche Kritiker des Tübinger Paradigmas bestreiten zwar nicht die Authentizität der Prinzipienlehre, sehen aber in ihr einen späten Einfall Platons, den er nicht systematisch ausgearbeitet und nicht in seine frühere Philosophie integriert habe. Sie meinen, es handle sich bei der Prinzipienlehre nicht um den Kern von Platons Philosophie, sondern nur um ein unausgereiftes Konzept aus der Endphase seiner philosophischen Aktivität. Er habe dieses Konzept als Hypothese eingeführt, aber nicht mit der Metaphysik seiner Dialoge zu einem stimmigen Ganzen verbunden. Zu den Vertretern dieser Deutung gehören [[Dorothea Frede]],<ref>Dorothea Frede: ''Platon: Philebos. Übersetzung und Kommentar'', Göttingen 1997, S. 403–417. Sie bestreitet insbesondere, dass Platon die Ableitbarkeit der gesamten Wirklichkeit aus den zwei Urprinzipien behauptete; siehe Dorothea Frede: ''Die wundersame Wandelbarkeit der antiken Philosophie in der Gegenwart''. In: [[Ernst-Richard Schwinge]] (Hrsg.): ''Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2. Jahrtausends n. Chr.'', Stuttgart 1995, S. 9–40, hier: 28–33.</ref> [[Karl-Heinz Ilting]]<ref>Karl-Heinz Ilting: ''Platons ‚Ungeschriebene Lehren’: der Vortrag ‚über das Gute’''. In: ''Phronesis'' 13, 1968, S. 1–31, hier: 5, 29.</ref> und Holger Thesleff.<ref>Holger Thesleff: ''Platonic Patterns'', Las Vegas 2009, S. 486–488.</ref> Ähnlich urteilen Andreas Graeser, der die ungeschriebene Lehre auf „schulinterne Diskussionsbeiträge“ reduziert,<ref>Andreas Graeser: ''Die Philosophie der Antike 2: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles'', 2. Auflage, München 1993, S. 130–132. Kritik an einzelnen Argumenten Krämers übt Graeser in dem seinem Lehrer Harold Cherniss gewidmeten Aufsatz ''Kritische Retraktationen zur esoterischen Platon-Interpretation''. In: ''Archiv für Geschichte der Philosophie'' 56, 1974, S. 71–87.</ref> und [[Jürgen Mittelstraß]], der „ein vorsichtiges Fragen und hypothetische Beantwortungsvorschläge“ Platons annimmt.<ref>Jürgen Mittelstraß: ''Ontologia more geometrico demonstrata''. In: ''Philosophische Rundschau'' 14, 1967, S. 27–40, hier: 39.</ref> Rafael Ferber meint, Platon habe die Prinzipienlehre unter anderem auch deswegen nicht schriftlich fixiert, weil er sie nicht als Wissen, sondern als bloße Meinung betrachtet habe.<ref>Rafael Ferber: ''Warum hat Platon die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben?'', 2. Auflage, München 2007, S. 19–27, 92–94. Vgl. Thomas Alexander Szlezák: ''Die Idee des Guten in Platons Politeia'', Sankt Augustin 2003, S. 135–146.</ref> [[Margherita Isnardi Parente]] bestreitet nicht die Möglichkeit einer ungeschriebenen Lehre, schätzt aber die Überlieferung als unzuverlässig ein und hält das Tübinger Paradigma für unvereinbar mit der Philosophie der Dialoge, in denen die authentische Auffassung Platons zu finden sei. Die Darstellung des Aristoteles beziehe sich auf eine nicht von Platon selbst, sondern von Akademieangehörigen stammende Systematisierung platonischen Gedankenguts.<ref>Margherita Isnardi Parente: ''Il problema della „dottrina non scritta“ di Platone''. In: ''La Parola del Passato'' 41, 1986, S. 5–30; Margherita Isnardi Parente: ''Platone e il problema degli ágrapha''. In: ''Méthexis'' 6, 1993, S. 73–93; Margherita Isnardi Parente: ''L’eredità di Platone nell’accademia antica'', Milano 1989, S. 31–48. Kritisch äußert sich zu Isnardi Parentes Position Hans Krämer: ''Neues zum Streit um Platons Prinzipientheorie''. In: ''Philosophische Rundschau'' 27, 1980, S. 1–38, hier: 4–6.</ref> Auch Franco Ferrari führt die Systematisierung nicht auf Platon zurück.<ref>Franco Ferrari: ''Les doctrines non écrites''. In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques'', Band 5, Teil 1 (= V a), Paris 2012, S. 648–661, hier: 660.</ref> [[Wolfgang Kullmann]] lehnt die Authentizität der Zweiprinzipienlehre nicht ab, sieht aber einen fundamentalen Widerspruch zwischen ihr und der Philosophie Platons in den Dialogen.<ref>Wolfgang Kullmann: ''Platons Schriftkritik''. In: ''Hermes'' 119, 1991, S. 1–21, hier: 19–21.</ref> [[Wolfgang Wieland (Philosoph)|Wolfgang Wieland]] geht von der Rekonstruierbarkeit der ungeschriebenen Lehre aus, stuft ihre philosophische Relevanz aber sehr niedrig ein und meint, es könne sich nicht um den Kern von Platons Lehre handeln.<ref>Wolfgang Wieland: ''Platon und die Formen des Wissens'', 2. Auflage, Göttingen 1999, S. 40–50, 328–330, 340. Ähnlich beurteilen die philosophische Relevanz Jürgen Mittelstraß: ''Platon''. In: Otfried Höffe (Hrsg.): ''Klassiker der Philosophie'', Bd. 1, München 1981, S. 38–62, hier: 59f. und Philip Merlan: ''Bemerkungen zum neuen Platobild''. In: ''Archiv für Geschichte der Philosophie'' 51, 1969, S. 111–126, hier: 123–126. Kritik an Wielands Auffassung übt aus der Sicht der „Tübinger“ Hans Krämer: ''Kritische Bemerkungen zu den jüngsten Äußerungen von W. Wieland und G. Patzig über Platons ungeschriebene Lehre''. In: ''Rivista di Filosofia neo-scolastica'' 74, 1982, S. 579–592, hier: 579–585.</ref> [[Franz von Kutschera]] hält die Existenz einer ungeschriebenen Prinzipientheorie Platons für kaum ernstlich bestreitbar, meint aber, die indirekte Überlieferung bewege sich philosophisch auf so niedrigem Niveau, dass ein sinnvoller Rekonstruktionsversuch von den Dialogen ausgehen müsse.<ref>Franz von Kutschera: ''Platons Philosophie'', Band 3, Paderborn 2002, S. 149–171, 202–206.</ref> Domenico Pesce bejaht die Existenz einer ungeschriebenen Lehre, deren Gegenstand das Gute gewesen sei, verwirft aber deren Rekonstruktion durch die Tübinger Schule und insbesondere die Annahme, dass Platon die Wirklichkeit für bipolar gehalten habe.<ref>Domenico Pesce: ''Il Platone di Tubinga'', Brescia 1990, S. 20, 46–49.</ref>         
 
Eine auffällige Begleiterscheinung der teils mit großer Schärfe geführten Auseinandersetzungen um das Tübinger Paradigma ist, dass Vertreter beider Seiten der jeweiligen Gegenseite eine weltanschauliche Voreingenommenheit unterstellt haben.<ref>Solche Vorwürfe sind vor allem von den „Tübingern“ erhoben worden; zu ihrer Sichtweise siehe Thomas Alexander Szlezák: ''Zur üblichen Abneigung gegen die agrapha dogmata''. In: ''Méthexis'' 6, 1993, S. 155–174; Thomas Alexander Szlezák: ''Methodische Bemerkungen zur Diskussion um die mündliche Philosophie Platons''. In: ''Philotheos'' 5, 2005, S. 174–190; Hans Krämer: ''Altes und neues Platonbild''. In: ''Méthexis'' 6, 1993, S. 95–114, hier: 112–114. Weltanschauliche Befangenheit der „Tübinger“ vermutet Francesco Fronterotta: ''Une énigme platonicienne: La question des doctrines non-écrites''. In: ''Revue de philosophie ancienne'' 11, 1993, S. 115–157, hier: 156f.</ref> Zu diesem Aspekt der Debatte bemerkt Konrad Gaiser: „In diesem Streit spielen, wohl auf beiden Seiten, eigene, moderne Vorstellungen von dem, was vorbildliche Philosophie ist, unbewusst mit; und deswegen ist auf eine Einigung in diesem Streit kaum zu hoffen.“<ref>Konrad Gaiser: ''Prinzipientheorie bei Platon''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften'', Sankt Augustin 2004, S. 295–315, hier: 299.</ref>
 
== Quellen ==
 
* Margherita Isnardi Parente (Hrsg.): ''Testimonia Platonica'' (= ''Atti della Accademia Nazionale dei Lincei, Classe di scienze morali, storiche e filologiche, Memorie'', Reihe 9, Band 8 Heft 4 und Band 10 Heft 1). Rom 1997–1998 (kritische Ausgabe mit italienischer Übersetzung und Kommentar)
** Heft 1: ''Le testimonianze di Aristotele'', 1997
** Heft 2: ''Testimonianze di età ellenistica e di età imperiale'', 1998
* Giovanni Reale (Hrsg.): ''Autotestimonianze e rimandi dei dialoghi di Platone alle „dottrine non scritte“''. Bompiani, Milano 2008, ISBN 978-88-452-6027-8 (Zusammenstellung einschlägiger Texte Platons mit italienischer Übersetzung und ausführlicher Einleitung, in der Reale auch auf Kritik an seiner Position eingeht)


== Nachweise, Anmerkungen ==
<references/>
== Literatur ==
== Literatur ==
'''Übersichtsdarstellungen'''
#Rudolf Steiner: ''Betriebsräte und Sozialisierung'', [[GA 331]] (1989), ISBN 3-7274-3310-8 {{Vorträge|331}}
* [[Wikipedia:Michael Erler|Michael Erler]]: ''Platon'' (= [[Wikipedia:Hellmut Flasha|r]] (Hrsg.): ''[[Wikipedia:Grundriss der Geschichte der Philosophie|Grundriss der Geschichte der Philosophie]]. Die Philosophie der Antike'', Band 2/2), Basel 2007, S. 406–429, 703–707
#Rudolf Steiner: ''Gedankenfreiheit und soziale Kräfte'', [[GA 333]] (1985), ISBN 3-7274-3330-2 {{Vorträge|333}}
* Franco Ferrari: ''Les doctrines non écrites''. In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques'', Band 5, Teil 1 (= V a), CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07335-8, S. 648–661 
#Rudolf Steiner: ''Soziale Ideen – Soziale Wirklichkeit – Soziale Praxis. Band I: Frage- und Studienabende des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus in Stuttgart'', [[GA 337a]] (1999), ISBN 3-7274-3371-X {{Vorträge|337a}}
* [[Wikipedia:Konrad Gaiser|Konrad Gaiser]]: ''Platons esoterische Lehre''. In: Konrad Gaiser: ''Gesammelte Schriften''. Academia Verlag, Sankt Augustin 2004, ISBN 3-89665-188-9, S. 317–340
#Walter Kugler u.a.: ''Alle Macht den Räten? Rudolf Steiner und die Betriebsrätebewegung 1919. Vorträge, Berichte, Dokumente'', Zusammengestellt und kommentiert von Walter Kugler, Rudolf-Steiner-Nachlaßverwaltung, [[Beiträge]] zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 103, 1989, [http://fvn-archiv.net/PDF/Beitraege/BE-103-1989.pdf pdf]
* [[Wikipedia:Jens Halfwassen|Jens Halfwassen]]: ''Platons Metaphysik des Einen''. In: Marcel van Ackeren (Hrsg.): ''Platon verstehen. Themen und Perspektiven''. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17442-9, S. 263–278
{{GA}}
'''Untersuchungen'''
[[Kategorie:Wirtschaft]][[Kategorie:Arbeit]][[Kategorie:Soziales Leben]]
* [[Wikipedia:Rafael Ferber|Rafael Ferber]]: ''Warum hat Platon die „ungeschriebene Lehre“ nicht geschrieben?'' 2. Auflage, Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55824-5
* Konrad Gaiser: ''Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule.'' 3. Auflage, Klett-Cotta, Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91911-2 (enthält S. 441–557 eine Zusammenstellung von Quellentexten)
* Jens Halfwassen: ''Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin.'' 2., erweiterte Auflage, Saur, München und Leipzig 2006, ISBN 3-598-73055-1
* [[Wikipedia:Hans Krämer (Philosoph)|Hans Joachim Krämer]]: ''Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie''. Winter, Heidelberg 1959 (grundlegende Untersuchung, aber teilweise überholter Forschungsstand)
* Hans Joachim Krämer: ''Platone e i fondamenti della metafisica. Saggio sulla teoria dei principi e sulle dottrine non scritte di Platone''. 6. Auflage, Vita e Pensiero, Milano 2001, ISBN 88-343-0731-3 (besser verwendbar als die sehr mangelhafte englische Übersetzung: ''Plato and the Foundations of Metaphysics. A Work on the Theory of the Principles and Unwritten Doctrines of Plato with a Collection of the Fundamental Documents''. State University of New York Press, Albany 1990, ISBN 0-7914-0434-X)
* Giovanni Reale: ''Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen Lehren“''. 2., erweiterte Auflage, Schöningh, Paderborn 2000, ISBN 3-506-77052-7 (allgemeinverständliche Darstellung, daher als Einführung geeignet)
* Marie-Dominique Richard: ''L’enseignement oral de Platon. Une nouvelle interprétation du platonisme''. 2., überarbeitete Auflage, Les Éditions du Cerf, Paris 2005, ISBN 2-204-07999-5 (enthält S. 243–381 eine Zusammenstellung der Quellentexte ohne kritischen Apparat mit französischer Übersetzung)
 
== Weblinks ==
 
* [http://www.nd.edu/~plato/plato2issue/Szlezak.htm Vortrag] von Thomas Alexander Szlezák: ''Friedrich Schleiermacher und das Platonbild des 19. und 20. Jahrhunderts''
 
== Anmerkungen ==
<references />
 
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[[Kategorie:Platon]]
[[Kategorie:Ontologie]]
[[Kategorie:Metaphysik]]
[[Kategorie:Philosophie des Geistes]]
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{{Wikipedia}}

Version vom 1. Januar 2016, 16:50 Uhr

Die Urzelle des Wirtschaftslebens spricht sich nach Rudolf Steiner dadurch aus, dass jeder Mensch im Wirtschaftsleben in der Lage sein muss, für dasjenige, was er hervorbringt, so viel einzutauschen, dass er von dem Eingetauschten seine Bedürfnisse befriedigen kann, bis er ein gleiches Produkt wie das hervorgebrachte wieder hervorbringen kann. Eingerechnet muss dabei auch alles dasjenige werden, was abgegeben werden muss für jene, die nicht unmittelbar in der Gegenwart wirtschaftlich produktiv tätig sein können, z.B. für die Kinder und ihre Erziehung, für die Alten, Armen und Kranken usw.

" . . . In das Wirtschaftsleben hat sich hineingeschlichen dadurch gerade, daß der moderne Kapitalismus mit seiner Sehnsucht nach der Rente, der Konkurrenz des Kapitals, das Auf-den-Markt-werfen und Regeln nach Angehot und Nachfrage - es hat sich in dieses Wirtschaftsleben hineingeschlichen eine Verwaltungsart eben durch den Kapitalismus, die durch die Natur des Wirtschaftslebens nicht notwendig in diesem Wirtschaftsleben stehen muß. Denn was braucht man in diesem Wirtschaftsleben? Man braucht den Boden mit seiner Möglichkeit, Produkte für den Menschen hervorzubringen; man braucht im industriellen Wirtschaftsleben die Produktionsmittel; man braucht den Arbeiter an den Produktionsmitteln, den Handarbeiter auf der einen Seite, den geistigen Arbeiter auf der anderen Seite. Einzelne Menschen haben immer eingesehen, daß ein Wirtschaftsleben in sich vollendet ist, welches hat den Boden, welches hat den physischen und den geistigen Arbeiter. Deshalb haben stärkere Denker des Wirtschaftslebens, einer sogar, der in der Lage war, ein preußischer Minister zu werden, das Wort ausgesprochen: «Das Kapital ist das fünfte Rad am Wagen des Wirtschaftslebens.» Man kann sich nicht wegdenken aus dem Wirtschaftsleben den geistigen Verwalter der Produktionsmittel und des Bodens, man kann sich nicht wegdenken den physischen Arbeiter, man kann sich wegdenken, ohne daß die Wirtschaft gestört wird, das Wirken des Kapitals. Daß das eine volkswirtschaftliche Wahrheit ist, das empfindet der heutige Proletarier; er empfindet es durch das, was ihm das Wirtschaftsleben an Leib und Seele bringt. Was ist in einem Wirtschaftsleben drinnen, in dem wirklich nur dasjenige herrscht, was ich eben angeführt habe? Arbeit, geistige und physische und dasjenige, was die Produktionsmittel und der Boden liefern. Die Leistung entsteht, die notwendig macht im menschlichen Leben Gegenleistung, und es entsteht das Urgebilde des Wirtschaftslebens. Dieses Urgebilde des Wirtschaftslebens heute reinlich herauszuarbeiten, das ist vonnöten, damit soziale Erkenntnis möglich werde. Tritt der Mensch ein in das Wirtschaftsleben - er muß produzieren für sich und für die anderen Menschen. Das ist der Maßstab, daß er in seinen Leistungen sich und die anderen Menschen wirtschaftlich halten kann. Das ist die große Frage, so einfach sie klingt, für alles Wirtschaftsleben. Die große Frage für alles Wirtschaftsleben ist diese: Ich muß imstande sein, innerhalb des Wirtschaftslebens, welcher Art der Hervorbringung ich mich auch hingebe: - ich muß imstande sein, für dasjenige, was ich hervorbringe, so viel einzutauschen aus der übrigen Wirtschaft heraus, daß ich meine Bedürfnisse des Lebens aus dem Eingetauschten befriedigen kann, bis ich imstande bin, eine gleiche Produktion wie das Hervorgebrachte wieder hervorzubringen. Eingerechnet muß werden in dasjenige, was da in Betracht kommt, ich möchte sagen, als das Atom des Wirtschaftslebens, als das Urelement des Wirtschaftslebens, - eingerechnet muß werden alles dasjenige, was ich abgeben muß für die, welche nicht unmittelbar in der Gegenwart produktiv tätig sein können; eingerechnet muß werden alles dasjenige, was für die Kinder, für ihre Erziehung usw. notwendig ist; eingerechnet muß werden die Quote, die ich für Arme, Kranke, Witwen, als Altersunterstützung zu geben habe. Das alles ist einzurechnen in diese Urzelle des Wirtschaftslebens, die sich eben dadurch ausspricht, daß jeder Mensch im Wirtschaftsleben in die Lage kommen muß, für dasjenige, was er hervorbringt, so viel einzutauschen, daß er von dem Eingetauschten seine Bedürfnisse befriedigen kann, bis er ein gleiches Produkt wie das hervorgebrachte wieder hervorbringt. Man sieht es aber dieser Urzelle des Wirtschaftslebens an, daß sie nur geregelt werden kann, wenn sie in dem Kreislauf des Wirtschaftslebens nichts anderes drinnen hat, als die Leistungen selber; wenn man nichts anderes im Kreislauf des Wirtschaftslebens hat als dasjenige, was der einzelne arbeitet als seine Leistung, und was die anderen mit ihm als ihre Leistungen eintauschen können. Innerhalb dieses Kreislaufes des Wirtschaftslebens hat nicht Ort und Stelle all dasjenige, was man nennen kann «Kapital»; das dringt nur ein, um dieses Wirtschaftsleben zu stören und diesen Wirtschaftsprozeß zu verunreinigen. Der Wirtschaftsprozeß wird nur reinlich, wenn in ihm der durch das Leben aus seiner Urzelle des Wirtschaftslebens heraus gebotene Wertausgleich der Güter stattfinden kann..." (Aus einem Vortrag von Rudolf Steiner, Tübingen, 2. Juni 1919, zitiert nach Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Beiträge 103, S. 18f)

Aus dem Prinzip dieser Urzelle, wie sie Rudolf Steiner hier charakterisiert, ergibt sich keine Einkommensdifferenzierung wegen unterschiedlicher Leistungen aufgrund von Befähigung. Eine bessere Bezahlung eines besonders fähigen Mitarbeiters würde zu privater Kapitalbildung in der Hand dieses Mitarbeiters führen, wenn er es nicht einfach nur verschwendet für Luxusreisen usw. Er erhielte mehr für seine Arbeit, als er benötigt. Diese Kapitalweggabe aufgrund der Überbezahlung bedeutete auf der anderen Seite aber eine Verteuerung der Ware. Solche Kapitalbildung ginge daher zu Lasten der Gemeinschaft, und hat im eigentlichen Wirtschaftsprozeß aus der Urzelle heraus nichts zu suchen. Man staunt daher, daß z.B. Latrille eine Einkommensdifferenzierung von bis zu 1:10 vorschlägt[1]. Man kann solche Vorschläge nur als einen Rückfall in die Entgeltungsvorstellung bezeichnen, nach der ein Mitarbeiter danach bezahlt wird, was er dem Unternehmen wert ist, insofern seine Fähigkeiten knapp sind. Um einen fähigen Mitarbeiter nicht zu verlieren, zahlt man ihm mehr, als er für seinen Bedarf benötigt: Dadurch verteuern sich die Waren, die das Unternehmen anbietet, und auf der anderen Seite wird das Bankkonto des fähigen Mitarbeiters fetter: Das ist ein Vorgang, der zu falschen Preisen führt und das Wirtschaftsleben wenn nicht schädigt, so doch belastet.

„Dasjenige, was man heute ein Existenzminimum nennt, das ist noch immer auf das Lohnverhältnis hin gedacht. Diese Art des Denkens, die wird beim selbständigen Wirtschaftsleben nicht in derselben Weise stattfinden können. Da wird die Frage reinlich aus dem Wirtschaftsleben heraus gestellt werden müssen. Diese Frage wird sich dann so stellen, daß der Mensch, indem er irgendeine Leistung vollbringt, indem er irgend etwas hervorbringt, für diese Leistung so viel an anderen Menschheitsleistungen durch Austausch wird zu bekommen haben, als er nötig hat, um seine Bedürfnisse und die Bedürfnisse derjenigen, die zu ihm gehören, zu befriedigen, bis er ein neues, gleichartiges Produkt hervorgebracht hat. Dabei muß nur in Anrechnung kommen all das, was der Mensch für seine Familie an Arbeit und dergleichen zu leisten hat. Dann wird man eine gewisse, ich möchte sagen Urzelle des Wirtschaftslebens finden. Und dasjenige, was diese Urzelle des Wirtschaftslebens zu dem machen wird, was eben den Menschen seine Bedürfnisse wird befriedigen lassen, bis er ein gleichartiges, neues Produkt hervorbringt, das gilt für alle Zweige des geistigen und materiellen Lebens. Das wird so zu ordnen sein, daß die Assoziationen, die Koalitionen, die Genossenschaften von der Art, wie ich sie vorhin dargestellt habe, zu sorgen haben werden, daß diese Urzelle des Wirtschaftslebens bestehen kann. Das heißt, daß ein jegliches Produkt im Vergleich mit anderen Produkten denjenigen Wert hat, der gleichkommt den anderen Produkten, die man braucht zu Befriedigung der Bedürfnisse bis zur Herstellung eines neuen, gleichartigen Produkts. Daß diese Urzelle des Wirtschaftslebens heute noch nicht besteht, das beruht eben darauf, daß im Angebot und Nachfrage des heutigen Marktes zusammenfließen Arbeit, Ware und Recht und daß diese drei Gebiete in der Zukunft getrennt werden müssen im dreigeteilten, gesunden sozialen Organismus.“ (Lit.:GA 337a, S. 82f)

„Und gleichsam die Urzelle dieses Wirtschaftslebens, das nur auf Sachkenntnis und Fachtüchtigkeit gegründet sein soll, die Preisbildung, wie wird sie sich vollziehen müssen? Nicht durch den Zufall des sogenannten freien Marktes, wie es bisher in der Volkswirtschaft und in der Weltwirtschaft der Fall war! So wird sie sich vollziehen müssen, daß auf dem Boden von Assoziationen, die sachgemäß zwischen den einzelnen Produktionszweigen und den Konsumgenossenschaften entstehen, durch Menschen, die sachkundig und fachtüchtig aus diesen Genossenschaften hervorgehen, organisch das erreicht werde, vernünftig erreicht werde, was heute krisenhaft der Zufall des Marktes hervorbringt. Es wird in der Zukunft, wenn die Feststellung von Art und Charakter der menschlichen Arbeitskraft in den Rechtsstaat fällt, ungefähr innerhalb des Wirtschaftslebens sich zutragen müssen, daß der Mensch für irgend etwas, was er arbeitend vollbringt, so viel an Austauschwerten erhält, daß er seine Bedürfnisse dadurch befriedigen kann, bis er ein gleiches Produkt wieder hervorgebracht hat.“ (Lit.:GA 333, S. 85f)

„Sehen Sie, bei der heutigen Struktur der Gesellschaft läßt sich eigentlich gar nicht anders produzieren als im Hinblick auf den Profit. Das Prinzip, zu produzieren, um zu konsumieren, das muß erst geschaffen werden! Und von diesem Prinzip wird wiederum abhängen, ob in einer entsprechenden Weise Wege für eine Güterverteilung gefunden werden können. Es wird viel davon abhängen, daß man über einen großen Bereich hin, ich möchte sagen, eine wirtschaftliche Urzelle findet. Diese wirtschaftliche Urzelle - ich möchte wenigstens mit ein paar Worten kurz von ihr sprechen -, worin besteht sie denn? Geht man nicht vom Produzieren, sondern vom Konsumieren, von der Befriedigung der Bedürfnisse aus, so handelt es sich darum, daß wir erst zu einem praktikablen Ergebnis dessen kommen müssen, was im Sinne der Bedürfnisbefriedigung zu einer sachgemäßen Preisbildung führt. Das geschieht nämlich heute in anarchisch- chaotischer Weise durch Angebot und Nachfrage, und da steckt viel drinnen von der Unmöglichkeit, heute überhaupt zu etwas zu kommen. Mit der Formel von Angebot und Nachfrage wird man nicht zu dem Ziel kommen, zu produzieren, um zu konsumieren. Nicht wahr, um zu dem Ziel zu gelangen, ist es notwendig, daß das, was ich produziere, im Vergleich zu anderen Gütern so viel wert sein muß, daß ich dafür eintauschen kann, ganz gleich, wie sich der Tausch gestaltet, alle diejenigen Güter, die meine Bedürfnisse befriedigen bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich ein gleiches Produkt wie jetzt hervorgebracht habe. Dabei muß dann alles das mit eingerechnet werden, was man als Beitrag zu leisten hat für diejenigen, die zur Zeit nicht unmittelbar selbst produzieren können, also für Kinder, die erzogen werden müssen, für Arbeitsunfähige und so weiter. Wovon man also ausgehen muß, das ist, sich klar zu werden über diese wirtschaftliche Urzelle. Erst dadurch wird es möglich, auf wirtschaftlichem Boden eine gerechte Preisbildung zu erreichen, so daß man dann in der Zukunft nicht wiederum, wenn man auf der einen Seite mehr verdient, auf der anderen Seite mehr ausgeben muß, weil die Dinge selbstverständlich unter dem Einfluß des Mehrverdienstes teurer werden.“ (Lit.:GA 331, S. 128f)

Die praktischen Erfahrungen mit den Urzellen und den Preisen, die sich bilden, würden dann auch eine Pauschalisierung ermöglichen, was ein Mensch generell durchschnittlich bei gegebenen Wirtschaftsverhältnissen an Einkommen benötigt, um seinen Bedarf zu decken:

„Daß aber ein wirklich auf sich selbst gestelltes Wirtschaftsleben erst recht sorgen kann für Witwen und Waisen und so weiter, das habe ich in meinem Buche «Die Kernpunkte der Sozialen Frage» des breiteren ausgeführt. Ich habe es sogar vorhin schon angedeutet, daß eingerechnet werden muß in die wirtschaftliche Urzelle dasjenige, was ein jeder als Quote beizusteuern hat zu dem, was Witwen und Waisen, überhaupt sonstige nicht arbeitsfähige Menschen - wie in meinem Buche ausgeführt ist, auch für die Kinder, für die ich das Erziehungsrecht in Anspruch nehme -, zu bekommen haben. Der Maßstab dafür wird sich ergeben einfach aus der Lebenshaltung der übrigen Personen. Da man mit der wirtschaftlichen Urzelle einen Maßstab hat für die Lebenshaltung einer Person nach dem bestehenden wirtschaftlichen Gesamtwohlstande, so ist damit zu gleicher Zeit auch die Möglichkeit gegeben, einen Maßstab zu schaffen für das Leben derjenigen, die wirklich nicht arbeiten können.“ (Lit.:GA 337a, S. 91)

Es ist nicht ganz klar, ob Steiner hier mit dem Maßstab der Lebenshaltung "einer" Person, den Bedarf der einen leistungerbringenden Person für sich allein, im Unterschied zum Famlienbedarf verstehen will, oder einen durchschnittlichen Familienbedarf. Sollen die Preise sich nicht aus Angebot und Nachfrage ergeben, sondern entsprechend den Bedarfen sich bilden, wird für die Regelung allerdings dann eine gewisse Pauschalierung notwendig werden, die von Steiner hier angedeutet ist. Es könnte da dann auch unterschiedliche Einkommensstufen oder -klassen geben. Eine unterschiedliche Entlohnung aufgrund unterschiedlicher Befähigung und daher anderem Leistungsausmaß läßt sich daraus jedoch nicht ableiten.

Komponenten von Bedarf, Zeitbedarf, Leistung und Preis

Gemäß dem Konzept der Urzelle hat man zum Verständnis der Entstehung der Preise zunächst diese Urzelle selbst näher zu untersuchen, und nicht etwa z.B. Auswirkungen von Gesamtangebot einer Ware oder nachgefragtem Bedarf. Diese gehören zu den Faktoren, die auf die Urzelle einwirken, und erst über diese Einwirkung einen Einfluß auf den Preis einer Ware haben können.

Genauso hat die Bewertung einer Leistung in ihrer Inanspruchnahme zunächst keine Bedeutung für den Preis, da dieser sich aus Bedarf und Zeitbedarf für die Hervorbringung der Leistung ergibt. Wenn durch die Fähigkeit des Leistungserbringers die benötigte Zeit für die Produktion sich verringert, dann wird dadurch eine Ware nicht teurer, sondern billiger.

Bedarf

Der Bedarf besteht nicht nur in dem, was der Leistungserbringer für seinen Lebensunterhalt benötigt, sondern es gehört dazu auch der Unterhalt der Angehörigen, der abhängigen Familie. Man macht sich die Dimension dieser Preiskomponente nicht richtig klar, wenn man unter Mißachtung des Prinzips der Urzelle z.B. Krankenversicherung auf den Preis fiktiv aufschlägt, gewissermaßen, nachdem er schon der Urzelle entsprungen ist, ihn im Nachherein manipuliert. Der Aufpreis für eine Krankenversicherung kann nur ein Äquivalent sein für dasjenige am Bedarf, was für den Leistungserbringer wegen Krankheitsmöglichkeit veranschlagt werden muß.

Desgleichen entsteht auch die Preiskomponente für die Alterssicherung in der Urzelle selbst, und wird nicht im nachherein aufgeschlagen. In einer unentwickelten Wirtschaft gehören zur Familie auch die Kranken und Alten. Der Leistungserbringer muß für seine Ware einen Preis erhalten, der nicht nur die Kinder, sondern auch die nicht mehr tätigen Großeltern, sowie auch den beschäftigten Auszubildenden, und z.B. einen behinderten Onkel, der mit in der Familie lebt, ernähren kann.

Arbeiten im wirtschaftlichen Sinne (d.h. für familienfremden Bedarf) in solch einer Lebens- bzw. Hausgemeinschaft zwei Personen, dann erhöht sich dadurch selbstverständlich keineswegs der Bedarf für den Lebensunterhalt dieser Familie, abgesehen von den direkt produktionsbezogenen Bedarfen. Wenn die Partnerin eines Schusters Kleider herstellt, und die Familie daher nicht nur Schuhe produziert, sondern Schuhe und Kleider, sind dadurch die Preise für Schuhe und Kleider verbilligt.

Zeitbedarf

Gemäß diesem Konzept der wirtschaftlichen Urzelle ist der Preis einer Ware umso höher, je mehr Zeit für ihre Produktion benötigt wird. Dafür ist es zunächst unerheblich, ob durch andere Produzenten die Ware billiger produziert werden kann, weil sie weniger Zeit dafür benötigen. Wenn der Schuster für ein paar Schuhe eine Woche benötigt, wird der Preis für diese paar Schuhe dem Bedarf für eine Woche Lebensunterhalt entsprechen müssen. Dabei ist es völlig egal, ob andere Schuster für das betreffende Wirtschaftsgebiet Schuhe gleicher Qualität an einem Tag schaffen können. Wenn man nun meint, ein Preis für die Schuhe, der 1 Woche Lebensunterhalt entspricht, sei zu hoch, worauf könnte sich so ein Urteil gründen?

Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, hat sich aber strikt am Prinzip der Urzelle zu orientieren, und nicht etwa an der Beobachtung, daß die Nachfrage nach preisgünstigen Schuhen höher ist als diejenige nach teuren.

Ein Grund dafür, daß der Schuster eine ganze Woche für ein paar Schuhe benötigt, könnte sein, daß der Schuster in Teilzeit arbeitet. Er arbeitet z.B. nicht wie die anderen Schuster "Vollzeit", angenommen 40 Stunde die Woche, sondern nur ein 1/7 davon, ca. 6 Stunden die Woche.

Fall 1. Die übrigen 6/7 verwendet der Schuster auf ein anderes Produktionsgebiet, er ist nämlich auch Schneider. Als Schneider arbeitet er ca. 34 Stunden die Woche.

Fall 2. Da der Schuster im fortgeschrittenen Alter ist, etwas altersschwach, kann er nicht mehr so schnell arbeiten wie in den besten Jahren. Er braucht die doppelte Zeit wie früher, arbeitet aber weiterhein "Vollzeit".

Fall 3. Da der Schuster im fortgeschrittenen Alter ist, etwas altersschwach, kann er nicht mehr 8 Stunden pro Tag arbeiten, er arbeitet 5 Tage á 4 Stunden, "Teilzeit", aber so schnell wie früher. Das Paar Schuhe ist nach einer Woche fertig wie in Fall 2.

Fall 4. Der Schuster ist jung und arbeitet auch am Wochenende sowie abends, insgesamt 100 Stunden die Woche. Das paar Schuhe ist gleichwohl erst in einer Woche fertig, da der Schuster das Produktionsverfahren während der Produktion der Schuhe optimiert.

Fall 5. Der Schuster benötigt 3,5 Tage für die Produktion der Schuhe. In den übrigen 3,5 Tagen widmet er sich der Aufgabe, das Produktionsverfahren zu optimieren, produziert in dieser halben Woche also keine Schuhe.

Fall 6. Der Schuster arbeitet nicht wie gewöhnlich 40 Stunden die Woche, sondern eine Zeitlang 80 Stunden die Woche, und lagert die zusätzlich produzierten Schuhe. Nach einem Jahr stehen 52 paar Schuhe im Lager. Im folgenden Jahr läßt er die 52 Paar von einem Händler abholen, und widmet sich ausschließlich der Kindererziehung, sowie Renovierung der Privatwohnung und dergleichen.

Fall 7. Wie 6, jedoch ohne private Haushaltsproduktion, und statt dessen 1 Jahr "Sabbatical".

Fall 8. Wie 7, jedoch anstatt 80 Stunden, arbeitet der Schuster nur 40 Stunden, es gibt also keine zusätzlichen 52 Paar, die ein Händler abholen kann. Trotzdem gönnt sich der Schuster ein Jahr sabattical.

Fall 9. Der Schuster hat einen Sohn, der im Betrieb mitarbeitet, der aber, obwohl fleißig, nicht sonderlich befähigt ist, sodaß ein Teil der Schuhe mit Fehlern behaftet sind, die in der Folge zum Schuster zwecks Reparatur zurückgebracht werden.

Leistung

Preis

Siehe auch

Preisbildung

Nachweise, Anmerkungen

  1. Christoph Strawe: Bedürfnislohn oder Leistungslohn? Zur Auflösung einer falschen Fragestellung, Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, Nr. 1, 1994, S. 9, PDF

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Betriebsräte und Sozialisierung, GA 331 (1989), ISBN 3-7274-3310-8 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Gedankenfreiheit und soziale Kräfte, GA 333 (1985), ISBN 3-7274-3330-2 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  3. Rudolf Steiner: Soziale Ideen – Soziale Wirklichkeit – Soziale Praxis. Band I: Frage- und Studienabende des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus in Stuttgart, GA 337a (1999), ISBN 3-7274-3371-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  4. Walter Kugler u.a.: Alle Macht den Räten? Rudolf Steiner und die Betriebsrätebewegung 1919. Vorträge, Berichte, Dokumente, Zusammengestellt und kommentiert von Walter Kugler, Rudolf-Steiner-Nachlaßverwaltung, Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe Nr. 103, 1989, pdf
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