Urphänomene der Chromatik

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Die Urphänomene der Chromatik (auch Urphänomene der Farbenlehre) wurden von Johann Wolfgang von Goethe in seiner 1810 veröffentlichten Schrift Zur Farbenlehre ausführlich beschrieben und zeigen auf elementare Weise, wie sich aus dem Zusammenspiel von Licht und Finsternis die Farben herausbilden. Durch Abdunklung des Hellen bzw. durch Aufhellung des Dunklen springen die ersten Farberscheinungen, nämlich das Gelbe bzw. das Blaue, hervor, die einander polar gegenüberstehen.

Betrachten wir eine weiße, also annähernd farblos erscheinende Lichtquelle durch ein trübes Medium, so erscheint sie gelblich verfärbt. Je dichter die Trübe ist, desto mehr geht die Farbe über verschiedene Orangetöne bis ins Tiefrote über.

„Das höchstenergische Licht, wie das der Sonne, des Phosphors in Lebensluft verbrennend, ist blendend und farblos. So kommt auch das Licht der Fixsterne meistens farblos zu uns. Dieses Licht aber durch ein auch nur wenig trübes Mittel gesehen, erscheint uns gelb. Nimmt die Trübe eines solchen Mittels zu, oder wird seine Tiefe vermehrt, so sehen wir das Licht nach und nach eine gelbrote Farbe annehmen, die sich endlich bis zum Rubinroten steigert.“

Goethe: Zur Farbenlehre, § 150

Das ist das erste Urphänomen der Farbenlehre. Wir können es täglich an der Morgenröte oder am Abendrot studieren. Wenn die Sonne knapp über dem Horizont steht, muss ihr Licht einen weiten Weg durch die dichten erdnahen Dunstschichten zurücklegen, wodurch die Sonnenscheibe tiefrötlich verfärbt erscheint. Je höher die Sonne steigt, desto weniger wird ihr Licht durch die Dünste getrübt; sie erscheint dann gelblich. Steht sie an klaren Tagen endlich mittags hoch über unseren Köpfen, erstrahlt sie in nahezu makellosem strahlenden Weiß. Schritt für Schritt kann man so verfolgen, wie sich das Urphänomen vor unseren Augen entfaltet.

„Die Sonne, durch einen gewissen Grad von Dünsten gesehen, zeigt sich mit einer gelblichen Scheibe. Oft ist die Mitte noch blendend gelb, wenn sich die Ränder schon rot zeigen. Beim Heerrauch (wie 1794 auch im Norden der Fall war), und noch mehr bei der Disposition der Atmosphäre, wenn in südlichen Gegenden der Scirocco herrscht, erscheint die Sonne rubinrot mit allen sie im letzten Falle gewöhnlich umgebenden Wolken, die alsdann jene Farbe im Widerschein zurückwerfen. Morgen- und Abendröte entsteht aus derselben Ursache. Die Sonne wird durch eine Röte verkündigt, indem sie durch eine größere Masse von Dünsten zu uns strahlt. Je weiter sie herauf kommt, desto heller und gelber wird der Schein.“

Goethe: Zur Farbenlehre, § 154

Das zweite Urphänomen der Farbenlehre lässt sich ebenfalls täglich am Himmel beobachten. Blicken wir durch ein lichtdurchhelltes trübes Medium in die Finsternis, so hellt sich diese zu violetten oder bei stärkerer Trübung zu blauen Farbtönen auf.

„Wird hingegen durch ein trübes, von einem darauffallenden Lichte erleuchtetes Mittel die Finsternis gesehen, so erscheint uns eine blaue Farbe, welche immer heller und blässer wird, je mehr sich die Trübe des Mittels vermehrt, hingegen immer dunkler und satter sich zeigt, je durchsichtiger das Trübe werden kann, ja bei dem mindesten Grad der reinsten Trübe als das schönste Violett dem Auge fühlbar wird.“

Goethe: Zur Farbenlehre, § 151

Indem wir in den Himmel hineinschauen, blicken wir eigentlich auf die, nur von einzelnen leuchtenden Sternen durchbrochene, absolute Finsternis des Weltalls. In der Nacht erscheint uns der Himmel, namentlich in der ungetrübten und von keiner Lichtquelle erhellten Luft im Hochgebirge, sehr dunkel, nahezu schwarz. Bei Tag sehen wir den Himmel durch die sonnendurchhellte mit Dünsten erfüllte Luft. Dann erscheint er uns Blau; Tiefblau, in der klaren Luft der Hochgebirge gelegentlich sogar violett, wenn wir unseren Blick auf den Zenit richten, und von um so hellerem Blau, je mehr wir den Blick Richtung Horizont wenden, wo die Dünste immer dichter werden.

„Wird die Finsternis des unendlichen Raums durch atmosphärische vom Tageslicht erleuchtete Dünste hindurch angesehen, so erscheint die blaue Farbe. Auf hohen Gebirgen sieht man am Tage den Himmel königsblau, weil nur wenig feine Dünste vor dem unendlichen finstern Raum schweben; sobald man in die Täler herabsteigt, wird das Blaue heller, bis es endlich, in gewissen Regionen und bei zunehmenden Dünsten, ganz in ein Weißblau übergeht.“

Goethe: Zur Farbenlehre, § 155

Die herkömmliche Physik erklärt diese Phänomene durch die unterschiedliche Streuung des roten und blauen Lichts an den Staubpartikeln der Luft. Mag sein – im Bereich einer Farbenlehre sind solche Erklärungen aber fehl am Platz. Das Morgenrot und die Himmelsbläue sind die Urphänomene der Chromatik, die unmittelbar angeschaut und nachvollzogen werden können und die sichere Basis bilden, von der wir zu komplexeren Phänomenen voranschreiten können.