Mitteleuropa

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Vorschlag des Ständigen Ausschusses für geografische Namen zur Abgrenzung der Regionen Europas.
Völkerkarte von Mitteleuropa (1901)

Mitteleuropa ist eine nicht eindeutig nach politischen und geographischen Kriterien einzugrenzende Region im Herzen Europas, die sich durch eine bestimmte, heute aber vielfach verschüttete Geisteshaltung definiert, die sich auf die freie geistige Individualität gründet, die nach klarer und wahrer Selbsterkenntnis strebt, die das Ich im vollen Licht der Bewusstseinsseele zu erkennen sucht und daraus die Impulse für ein selbstverantwortliches soziales Handeln in freier geistiger Gemeinschaft mit Anderen schöpft. Im Grunde ist jeder Mensch „Mitteleuropäer“, der sich diesem Streben aus innerstem Antrieb verwandt fühlt, völlig unabhängig von seiner Herkunft.

"Diese mitteleuropäische Kultur, sie wird erst nach und nach in ihrer tiefsten Eigentümlichkeit verstanden werden von denen, die in ihr leben. Diese mitteleuropäische Kultur ist wahrhaftig der Ausdruck dessen, was auch im Faust steht: «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.» Ewiges Streben – und ist eine Etappe des Strebens errungen, so führt das Streben selbst wieder über diese Etappe hinaus. Man wird als Franzose, man wird als Italiener, man wird als Engländer geboren, und man weiß, was man ist; dasjenige, was man als mitteleuropäischer Mensch ist, zu dem muss man sich selbst erziehen, dasjenige, was uns zum mitteleuropäischen Menschen macht, das müssen wir uns im heißen Seelenstreben nicht nur einmal, das müssen wir fortwährend erringen. Dadurch wird es zu einem im höchsten Sinne Individuellen, dadurch wird es zu einem solchen, an dem jeder Mensch unmittelbar mitarbeiten muss, zu einem solchen, das immer aufs Neue errungen werden muss." (Lit.: Rudolf Steiner: Vortrag, Linz, 15. Mai 1915) [1]

"Die Völker der europäischen Mitte haben die Aufgabe, aus der Freiheit der Seele heraus bis in das 4. Jahrtausend alles dasjenige zu ziehen, was der Mensch aus der Freiheit seiner Seele bewußt erschaffen kann. Dazu muß aber allerdings die äußere materielle Wirklichkeit geistig-spirituell durchdrungen werden." (Lit.: GA 182, S. 101)

"Wir in Mitteleuropa haben die Aufgabe, dem Westen, der es nur zu der Entwickelung des Leibes und der Seele, und dem Osten, der es nur zur Entwickelung des Geistes und der Seele bringen kann, wir in Mitteleuropa haben die Aufgabe, der Menschheit zu zeigen, wie die Entwickelung durch Leib, Seele und Geist geht. Wir haben wiederum aufzurichten jenes Reich des Geistes, das untergraben worden ist von dem dogmatischen Katholizismus 869 auf dem achten ökumenischen Konzil zu Konstantinopel. Sonst geht mit dem Geiste der Menschheit auch die Seele verloren, und sie wird zum lebenden Leichnam auf dieser Erde, da die Erde weiterhin keine Lebenskraft mehr geben könnte. Daher das beständige Suchen nach dem Geiste, daher die Notwendigkeit einer wirklichen Weltanschauung der Freiheit. Nicht jener Freiheit, die mit dem schwärzesten Reaktionärismus verbunden sein kann, sondern jener Freiheit, die herausgeboren wird aus dem Geiste des modernen Menschen." (Lit.: GA 192, S. 242)

"Hier in Mitteleuropa wären im Grunde genommen diejenigen Menschen vorhanden, die wirklich auf der einen Seite sich erheben wollten zur Geistigkeit und die auf der anderen Seite auch einen Sinn hätten für das Erfassen der ganzen Breite der äußeren natürlichen Erscheinungswelt. Das ist dasjenige, was heute notwendig ist. Nur aus diesem Geiste heraus kann die Menschheit vorwärtskommen. Daher ist es auf dem Erkenntnisgebiet ebenso notwendig, daß die Menschen heute sich vertiefen in dasjenige, was Naturanschauung bieten kann, wie es auf der anderen Seite notwendig ist, daß sie sich vertiefen in dasjenige, was Geisteswissenschaft bringen kann. Weder das eine noch das andere enthält die volle Wahrheit, allein der Zusammenklang von beiden in der menschlichen Seele gibt die volle Wahrheit." (Lit.: GA 203, S. 60)

"Der Mensch der Mitte ist eben eingeklemmt zwischen Osten und Westen. Der Osten, der einstmals eine hohe Geisteskultur hatte, ist in der Dekadenz. Der Westen, in dem sich ankündigt eine spätere hohe Geisteskultur, ist heute noch ganz in der Materie befangen. Eine Kultur, in der sich, ich möchte sagen, die zwei Dinge ausgleichen, hat sich in der Mitte gebildet: Einerseits ein dialektisch scharfes Denken, wie es zum Beispiel in Schillers Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» waltet und das gerade noch so weit gehen kann, um nicht in die bloße Trivialität der modernen Wissenschaft zu verfallen, sondern das noch beim menschlich Persönlichen stehenbleibt; andererseits eine bildhafte Anschauung über des Menschen soziales Leben wie in Goethes «Märchen» von der grünen Schlange und der schönen Lilie, das schon zu Bildern kommt, aber diese Bilder nicht zu geistigen Anschauungen treibt.

Diesem Menschen der Mitte ist daher auch die Mission zuerteilt, dasjenige, was er zunächst durch seine besonderen Fähigkeiten erlangt hat für den Menschen zwischen Geburt und Tod, durch unmittelbare Erkenntnis zu erweitern für den Menschen als geistig-seelisches Wesen neben dem physisch-leiblichen Wesen, aber zu erweitern dadurch, daß unmittelbar aus diesem zur Mysterienweisheit wiederum aufgestiegen wird. Dann erhebt sich der Mensch durch Ausbildung derselben Fähigkeiten, durch die er das Geistig-Seelische gerettet hat für das physischleibliche Dasein, durch klares Denken, das sich aber entwickelt zu Imagination, Inspiration, Intuition, wiederum in die geistige Welt hinein, die durchlebt wird zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Hier, innerhalb dieser physischen Welt, erlebt man ein völliges Hineinleuchten jener Fähigkeiten, die da zu entwickeln sind, nur, wenn man das Problem der Freiheit betrachtet. Ich habe mich daher in meiner «Philosophie der Freiheit» darauf beschränkt, dieses Problem der Freiheit zu betrachten. Da mußte man schon, aber jetzt für bloß irdische Probleme, dieselbe Fähigkeit anwenden, die, wenn man sie dann weiter ausbildet, den Blick erhebt über dasjenige, was über Geburt und Tod hinausliegt." (Lit.: GA 197, S. 158f)

"Und dann sehen wir, wie nun die Menschheit im übrigen Europa ringt, so ringt, daß in Mitteleuropa ja überhaupt nur immer ein kleiner Teil der Menschheit sich heraufringen kann zu einem gewissen Bewußtsein, sozusagen in einer gewissen Weise erlebt, daß jetzt das Ich eintreten soll in die Bewußtseinsseele. Wir sehen, wie das in einer gewissen geistigen Höhe erreicht werden soll. Wir sehen es in jener merkwürdigen Kulturhöhe des Goetheschen Zeitalters, in der ein Fichte gewirkt hat, wir sehen, wie sich da das Ich vordrücken will zur Bewußtseinsseele herein. Aber wir sehen, wie die ganze Goethe-Kultur etwas bleibt, was im Grunde genommen nur bei ganz wenigen lebt." (Lit.: GA 204, S. 191)

"Beim heutigen mitteleuropäischen Menschen - wenn er seiner eigenen Natur folgt und sich nicht selber untreu wird -, ist es so, daß er dann, wenn er ein Höchstes aussprechen will, alles das ausspricht, was er selber als Mensch ist; er will sich hingeben dürfen der Anerkennung der Tatsache, daß Selbsterkenntnis des Menschen die edelste Frucht menschlichen Strebens ist. Daß die Darstellung des Menschlichen in der Umgebung des Menschen, in Natur und Geschichte, das edelste menschliche Schaffen ist, das ist doch schließlich beim Mitteleuropäer das Wesentliche, wenn dieser Mitteleuropäer sich seiner eigenen Natur und Wesenheit hingibt. Daher sehen wir, wie eigentlich nur in Mitteleuropa ein so wunderbarer Gedanke hat entstehen können wie derjenige, der aus Goethes Buch über Winckelmann herausleuchtet - ich möchte sagen wie die Sonne des neueren Kulturlebens. Da, wo Goethe in seinem Buche über Winckelmann alles dasjenige, was in diesem Wundermenschen an höherem Empfinden, an tiefen Gedanken, an Stärke des Willens lebte, zusammenfaßte als seine Weltanschauung, sagte er: «Daher tritt nun Kunst ein, denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, das neben seinen übrigen Taten und Werken einen glänzenden Platz einnimmt.» Der Mensch bringt gleichsam eine neue Natur aus seiner eigenen Geistigkeit hervor. Dieses Hinlenken aller menschlichen Kräfte auf die Erfassung des Menschen selber, das ist dasjenige, was - dem Volkstum nach - bei dem Menschen Mitteleuropas, wenn er sich selber treu ist, ganz besonders hervortritt; es ist nur in der neueren Zeit zurückgetreten. Aber es ist alle Veranlassung vorhanden bei dem Menschen Mitteleuropas, sich zu besinnen, wie gerade er, wenn er seiner ureigenen Wesenheit folgt, zu diesem Schätzen und Erfassen und Durchdringen des eigentlich Menschlichen kommen muß und soll." (Lit.: GA 335, S. 88f)

Im äußeren, aber nicht politisch gemeinten Sinn umfasst Mitteleuropa, wenn man den Begriff großzügig nimmt, Deutschland, die Schweiz, die Niederlande, Österreich und alle Nachfolgestaaten der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, mithin auch die Slowakei, Tschechien, Ungarn und Rumänien, dazu Kroatien, Luxemburg, Liechtenstein, Polen und die Baltischen Staaten und auch Südtirol, das Trentino und Oberitalien mit Städten wie Turin, Mailand oder Venedig und Triest, das sich ausdrücklich als citta mitteleuropea empfindet. Darüber hinaus besteht ein starkes geistiges Band zu den Skandinavischen Staaten. Gemeinsam sind diesen Gebieten bestimmte äthergeographische Voraussetzungen, die es erleichtern, das Ich direkt im Wärmeelement zu erfassen, dessen unmittelbarster äußerer Ausdruck dieses zugleich ist.

"Nun kann man die Frage aufwerfen: Wie steht es nun bei den mitteleuropäischen Völkern? Wir reden ja mehr von geographischen Verhältnissen, haben also Mitteleuropa nicht in einem sozialpolitischen Verhältnis im Auge. Ich habe auch nicht nach Rassenverhältnissen die Fragen beantwortet, sondern es sind, wie Sie sehen, spirituell- geographische Verhältnisse. Wir können also von einem Mitteleuropa sprechen, zu dem Frankreich und Italien nicht gehören.

Die Eigentümlichkeit des in Mitteleuropa wirkenden Volksseelentums ist es, daß - wie ich für andere Gebiete auseinandergesetzt habe, daß durch Luft, Wasser, durch das Salzige und so weiter gewirkt wird - in unmittelbarer Weise durch die Wärme gewirkt wird. Der Volksgeist wählt in Mitteleuropa den Umweg, das Medium der Wärme. Und zwar ist das nun nicht ganz unmittelbar fest bestimmt, es kann individualisiert werden. Es kann Menschen geben in Mitteleuropa, bei denen diese Wirkung des Volksgeistes verschieden sein kann, einmal aus dem übrigen Organismus und einmal auf das Haupt; auch je nachdem direkt die äußere Luft wärmt, oder indem durch die Speisen oder durch das Atmen gewärmt wird. Das alles ist Medium für den Volksgeist. Und was nun hier dieser Wirksamkeit entgegenwirkt, ist wieder die Wärme, so daß in Mitteleuropa die Wärme, insofern sie äußere Wirkungen hat, Medium für den Volksgeist ist. Und was ihr entgegenkommt, ist wieder die von innen kommende, selbsterzeugte Eigenwärme. Daher kann man sagen: Was im Organismus durch den Volksgeist als Wärme wirkt, dem kommt entgegen die Eigenwärme des Hauptes. Wirkt die Wärme des Volksgeistes durch das Haupt, so strömt ihr da die Wärme des übrigen Organismus entgegen. Wärme wirkt zu Wärme, und sie wirkt namentlich so, daß sie vorzugsweise von der größeren oder geringeren Lebendigkeit der Sinneswirksamkeit, geradezu der Wahrnehmungsfähigkeit abhängt. Ein Mensch, der regeren Geistes ist, der mit Liebe die Dinge um sich herum ansieht, entwickelt größere Eigenwärme. Ein Mensch, der flüchtig, oberflächlich ist, der nicht viel empfindet, der über alles hinweggeht, entwickelt weniger Eigenwärme. Dieses Mitleben mit der Umgebung, indem der Mensch ein Herz oder ein offenes Auge für die Umgebung hat, das ist es, was der Wärme, die durch den Volksgeist wirkt, entgegenschlägt, so daß da Wärme an Wärme schlägt. Das ist das Eigentümliche der Wirkungsweise des Volksgeistes in Mitteleuropa, und darauf beruht vieles im Wesen des Volkscharakters, weil Wärme zu Wärme so innig verwandt ist. Die andern Wirkungsweisen sind alle nicht so verwandt: der Wille ist mit dem Elektrischen nicht in derselben Weise verwandt, das Salzige ist mit dem Verdauungselement des Kopfes nicht so verwandt und die andern angeführten Wirkungen ebenfalls nicht. Aber Wärme bewirkt den mitteleuropäischen Charakter, der sich auch darin ausspricht, mehr oder weniger in alles aufgehen zu können. -Wir wollen nicht von Werturteilen reden, sondern nur charakterisieren, daher kann es jeder auffassen, wie er will: als Tugend oder als Untugend. - Wärme an Wärme: biegsam macht das, plastisch, in alles sich hineinfindend, auch in fremde Volkscharaktere. Oh, wenn wir die Geschichte verfolgen, so zeigt sie, wie die einzelnen deutschen Stämme in fremde Völkerschaften hineingenommen sind, fremdes Element angenommen haben. Das wird Ihnen alles bekräftigen, was jetzt gesagt worden ist." (Lit.: GA 181, S. 155f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.