Evolutionärer Humanismus

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Der vitruvianische Mensch ist ein oft genutztes Symbol evolutionärer Humanisten.

Der evolutionäre Humanismus ist eine humanistische Weltanschauung naturalistischer Prägung, welche den Menschen in einem umfassenden Evolutionsprozess verortet. Diese Weltanschauung hat philosophische Vorläufer in der Antike. Der Ausdruck wird auf das gleichnamige Werk von Julian Huxley, dem ersten UNESCO-Generaldirektor aus den 1960er Jahren zurückgeführt.[1][2] Heute tritt im deutschsprachigen Raum vor allem die Giordano-Bruno-Stiftung für eine Weiterentwicklung und Verbreitung des Konzepts ein.

Begriffsgeschichte

Julian Huxley, Begründer des evolutionären Humanismus

Der Begriff des evolutionären Humanismus wurde Anfang der 1960er Jahre von dem Evolutionsbiologen und ersten Generaldirektor der UNESCO, Sir Julian Huxley, geprägt. Die Vorläufer dieser Weltsicht reichen zurück in die Antike – etwa zu dem griechischen Philosophen Epikur, der um 300 v. Chr. bereits wesentliche Erkenntnisse der Moderne vorweggenommen hat, u. a. die Lehre vom atomaren Aufbau der Welt, vom Aufstieg und Untergang der Arten, der Unendlichkeit des Weltalls, der Sterblichkeit der Seele, dem Gesellschaftsvertrag und dem individuellen Streben nach Glück als Dreh- und Angelpunkt einer menschengerechten Ethik und Politik. Teils inspiriert durch Epikur, teils unabhängig von ihm, schufen in späteren Jahrhunderten Denker wie Giordano Bruno, Montaigne, La Mettrie, Jefferson, Paine, Darwin, Marx, Nietzsche, Einstein, Russell oder H.G. Wells wesentliche Grundlagen für das Konzept des evolutionären Humanismus, auf die Julian Huxley Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgreifen konnte.[3]

Wesentliche Motivation für Konzeptsuche und Begriffsfindung war für Huxley die Sorge um die Zukunft nach dem zweiten Weltkrieg:

„Im gegenwärtigen beängstigenden Zeitalter der verlorenen Illusionen, nach zwei großen Kriegen, haben wir einen weitgehenden Zusammenbruch überlieferter Glaubensüberzeugungen erlebt, aber gleichzeitig wurden wir uns in steigendem Maße bewusst, dass eine rein materialistische Anschauung keine angemessene Grundlage für das menschliche Leben bieten kann. Wir wurden aber auch Zeuge eines phantastischen Anwachsens wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Materie des Universums, über das Leben und die Psyche, über die menschliche Natur und die menschliche Gesellschaft, über Kunst, Geschichte und Religion; doch große Bruchstücke dieses neuen Wissens liegen ungenutzt herum, sie werden nicht weiterverwendet oder zu fruchtbringenden Begriffen und Prinzipien zusammengefasst.“

Julian Huxley[4]

Er war der Meinung, dass die UNESCO nicht nur ihre Ziele definieren müsse, sondern auch eine Arbeitsphilosophie brauche um sich nicht zu verzetteln oder gar widersprüchlich zu agieren. Die konkurrierenden Ideologien wie Islam, römischer Katholizismus, protestantische Christlichkeit, Buddhismus, Unitarismus, Judaismus oder Hinduismus kämmen dafür nicht in Frage. Ebenso wenig Kapitalismus, Marxismus, Sozialismus, Vorstellungen, dass der Staat wichtiger sei als das Individuum, Rassismus oder Nationalismus.

Die Basis müsse vielmehr ein wissenschaftlicher Humanismus sein. Dieser könne nicht statisch oder idealistisch sein. Es soll einen evolutionärer Ansatz gewählt werden, der die Notwendigkeit lehrt, in dynamischen Kategorien wie Geschwindigkeit und Richtung von Entwicklungen zu denken, statt statisch von gegenwärtiger Position und Erreichtem. Damit würden nicht nur die Ursprünge und biologischen Quellen der menschlichen Werte sichtbar, auch natürliche Phänomene und potentiell widersprüchliche Trends könnten besser eingeordnet werden.[5]

Symbolik

Die Darstellung des vitruvianischen Menschen nach den vom antiken Architekten und Ingenieur Vitruv(ius) formulierten und idealisierten Proportionen wird von evolutionären Humanisten bei Veranstaltungen und in der Öffentlichkeitsarbeit oft als alleinstehendes Zeichen mit hohem Wiedererkennungswert verwendet.[6] Die berühmteste Zeichnung stammt von Leonardo da Vinci, sodass damit die Ästhetik der Renaissance und Leonardos naturwissenschaftliches Ordnungsdenken symbolisch aufgegriffen werden soll.

Konzept

Der evolutionäre Humanismus gibt auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und humanistischer Werte Antworten auf die existenziellen Grundfragen des Menschseins (Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist ethisch gerecht?). Dadurch steht er in einem Spannungsverhältnis zu anderen weltanschaulichen Sichtweisen, die diese Menschheitsfragen etwa im Rückgriff auf eine göttliche Schöpfung oder eine vorgegebene Werteordnung wie die Scharia beantworten.

Kropotkin: Kooperation und Ethik entwickelten sich aus dem Tierreich

Der russische Anarchist, Geograph und Schriftsteller Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) beschäftigte sich in seinen Büchern Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt und Ethik, Ursprung und Entwicklung der Sitten intensiv mit der darwinschen Evolutionslehre und mit der Korrektur der damals sehr populären Auslegung als Überlebenskampf jeder gegen jeden, insbesondere deren Übernahme in die menschliche Soziallehre in Form des Sozialdarwinismus. Seine Ethik steht diesem diametral entgegen. Im Vorwort einer Neuausgabe Kropotkin’s Ethik bezeichnet Michael Schmidt Salomon ihn als den wohl klarsichtigsten Vordenker des Evolutionären Humanismus.[7]

In Ethik beschreibt Kropotkin, welche Hauptlinien der Ethik sich im Laufe der vergangenen 2500 Jahren entwickelt haben. Dabei stellt er fest, dass alle diese Ethiken äußerst wichtige Fragen gar nicht beantworten, etwa: Wo kommt unser ethischer Impuls eigentlich her? Dies wird von Kropotkin evolutionär erklärt. Bereits einfache, gesellig lebende Tiere, entwickeln ein Gefühl von Gleichartigkeit: Der Andere (zunächst der eigenen Art) wird als ein Gleicher empfunden, was zur Bildung von Verhaltensweisen führt, die später zu Gerechtigkeit (im Sinne von Gleichberechtigung) führen, und zu einer grundsätzlichen Sympathie und der gegenseitigen Hilfe. Die Ethik des modernen Menschen muss daher auf Gleichheit i. S. v. Gleichberechtigung und Solidarität begründet werden, denn nur diese haben ihre Verankerung in unserer Natur und entsprechen uns somit. Das steht im Gegensatz zum Eudämonismus (oder Hedonismus, Epikur) und zum Utilitarismus (Bentham), aber auch zu metaphysischen oder religiösen Grundlegungen (Platon, Stoa, Pflichtethik, Kant [auch Kant konnte seine Ethik letztlich nicht begründen und verankerte sie dann doch wieder in der Religion bzw. konkret im Christentum]). Kropotkin betont, dass weder Eudämonismus noch Utilitarismus die Bereitschaft zur Aufopferung erklären können, die unbedingte Solidarität mit dem Anderen dagegen sehr wohl. Das geht über abstrakte Konstruktionen weit hinaus und ist tief in unseren Emotionen verankert, auf die es für eine vollständige Ethik unbedingt ankommt.

Huxley: Begriffsbildung für eine wissenschaftsbasierte Weltanschauung

Aus Sicht Huxleys — der den Begriff Evolutionärer Humanismus ursprünglich als Arbeitsphilosophie für die UNESCO schuf — ist die Wissenschaft in der Lage, im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Evolution nicht nur die biologische Evolution, sondern auch anorganische Entwicklungen wie die Sternenentwicklung auf der einen Seite sowie auch menschliche und soziale Entwicklungen auf der anderen Seite zu erklären. Den Menschen sieht Huxley dabei als das höchste Produkt der Evolution an, der zudem fähig sei, die Evolution zu kontrollieren und, beispielsweise durch Gentechnik am Menschen, voranzutreiben. Gleichwohl erkannte er an, dass wissenschaftliche Erkenntnisse stets fehleranfällig und somit korrekturbedürftig sind und auch ethisch-politische Normen einem historischen Entwicklungsprozess unterliegen.[8]

Somit weist der evolutionäre Humanismus Züge auf, die für Weltanschauungen untypisch sind. Er setzt sich selbst nicht absolut, sondern versucht ein Rahmenmodell zu entwickeln, das andere weltanschauliche bzw. religiöse Standpunkte fair berücksichtigt. Sein Weltbild ist nicht statisch, sondern auf stete Weiterentwicklung ausgerichtet. Die Offenheit gegenüber neuen Erkenntnissen und alternativen Sichtweisen zeigt sich darin, dass sich der evolutionäre Humanismus, wie er im Manifest des evolutionären Humanismus von Michael Schmidt-Salomon aus dem Jahr 2005 vertreten wird, teils deutlich von Huxleys Positionen aus den 1960er Jahren unterscheidet.[3]

Schmidt-Salomon: Philosophische Weiterentwicklung des Konzepts

Das Manifest des evolutionären Humanismus plädiert für eine naturalistische Philosophie. Es basiert auf einem Bild des Kosmos, in dem alles „mit rechten Dingen zugeht“, in dem es keine metaphysischen Fabelwesen (Götter, Dämonen, Hexen oder Kobolde) gibt, die auf supranaturalistische (übernatürliche) Weise durch Wunder in das Weltgeschehen eingreifen. In der Einleitung heißt es:

„Wir leben in einer Zeit der Ungleichzeitigkeit: Während wir technologisch im 21. Jahrhundert stehen, sind unsere Weltbilder noch von Jahrtausende alten Legenden geprägt. Diese Kombination von höchstem technischen Know-how und naivstem Kinderglauben könnte auf Dauer fatale Konsequenzen haben. Wir verhalten uns wie Fünfjährige, denen die Verantwortung über einen Jumbojet übertragen wurde.“ (S. 7)
„Wer heute ein logisch konsistentes (= widerspruchsfreies), mit empirischen Erkenntnissen übereinstimmendes (= unserem systematischen Erfahrungswissen entsprechendes) und auch ethisch tragfähiges Menschen- und Weltbild entwickeln möchte, muss notwendigerweise auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zurückgreifen. Die traditionellen Religionen, die bislang das menschliche Selbstverständnis prägten, können diese Aufgabe nicht mehr erfüllen.“ (S. 7)

Allerdings sollte laut Schmidt-Salomon in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass auch manche traditionelle humanistische Vorstellungen in Konflikt mit dem heutigen erweiterten Wissen über Mensch und Natur geraten seien.[9] Evolutionär sei diese Strömung des Humanismus nicht nur, weil sie den Menschen als Zufallsprodukt der natürlichen Evolution begreife, sondern auch „weil wir nicht von absoluten, unantastbaren ewig gültigen Wahrheiten und Werten ausgehen, sondern vielmehr meinen, dass wir unsere Vorstellung über die Welt permanent kritisch hinterfragen und dann gegebenenfalls auch verändern müssen. Es ist also kein starres Weltmodell, sondern ein offenes, dynamisches, das darauf ausgerichtet ist, sich evolutionär weiterzuentwickeln.“[10] Der Begriff der Menschenwürde sei an das Selbstbestimmungsrecht des Individuums gebunden, woraus sich ein rein formaler, weltanschaulich neutraler Begriff der Menschenwürde ergebe, der folgendermaßen gefasst werden könne: Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat, nicht die Familie und auch keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft. Der evolutionäre Humanismus schütze als Rahmenmodell auch solche Überzeugungen, die aus seiner eigenen weltanschaulichen Perspektive als irrational erscheinen. Hier benennt er das Recht eines Gläubigen, in der „Nachfolge Jesu“ zu leiden und auf Palliativmedizin oder Sterbehilfe zu verzichten. Es stünde dem evolutionären Humanismus fern, Andersdenkenden die eigene Weltsicht aufzuzwingen. Er trete für einen weltanschaulich neutralen Staat ein, der jeder Person die Freiheit einräume, gemäß der eigenen weltanschaulichen oder religiösen Überzeugung zu leben – sofern dadurch keine Rechte Dritter verletzt werden. Der Ansatz folge dem von Karl Popper beschriebenen Konzept der offenen Gesellschaft, das auf den vier grundlegenden Prinzipien Liberalität, Egalität, Individualität und Säkularität beruht.[3]

In den Zehn Angeboten des Evolutionären Humanismus, die Schmidt-Salomon den Zehn Geboten der Bibel gegenübergestellt, regt er an, dem großen Ideal der Ethik zu dienen, das Leid in der Welt zu mindern; sich fair gegenüber dem Nächsten und dem Fernsten zu verhalten; keine Angst vor Autoritäten zu haben, sondern den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen; sich in die Tradition derer zu stellen, die die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort machen woll(t)en und das Leben zu genießen, da höchstwahrscheinlich nur dieses eine gegeben sei.[11] In Hoffnung Mensch. Eine bessere Welt ist möglich aus dem Jahr 2014 legt er einen Schwerpunkt darauf, die positive Bilanz der Entwicklung des Menschen darzustellen. Die biologische und kulturelle Entwicklung der menschlichen Spezies zeige, dass der Mensch das Potential habe, immer „humaner“ zu werden. Er benennt positive Entwicklungen vor allem aus den Bereichen der Ethik, Wissenschaft, Technologie und Kunst, auf die es in Zukunft aufzubauen gelte. Der Text enthält verschiedene indirekte Bezüge zur Evolution und beruft sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse der Soziobiologie, Hirnforschung und eine evolutionäre Erklärung der Religiosität.

Engel: Integrativer Ausblick

Gerhard Engel (ehem. Präsidiumsmitglied bei der Humanistischen Akademie Deutschland) stellt heraus, dass der evolutionäre Humanismus keine Weltanschauung sei, sondern vielmehr eine Methode, an einer Weltanschauung zu arbeiten, um ein objektives Gesamtbild der Welt im Sinne einer menschenwürdigen Gestaltung der Zukunft zu gewinnen. Demnach sei er Programm, Auftrag und Aufforderung auch in gesellschaftlicher Hinsicht der sozialen und kulturellen Evolution. Der evolutionäre Humanismus fördere die Suche nach intellektuellen Kooperationsgewinnen. Diese ließen sich nicht nur im Gespräch zwischen den Wissenschaften, sondern auch im Gespräch zwischen Wissenschaft, Kunst, Religion, Literatur, Musik und Philosophie erzielen. Recht verstanden bedeute Evolution nicht nur Differenzierung und Anpassung, sondern auch Integration – also die Verbindung von Systemen zu immer leistungsfähigeren Komplexen. Der Mensch könne überall leben, sogar (für begrenzte Zeit) im Weltraum. Ein so akzentuierter evolutionärer Humanismus wäre eine Theorie der biologischen Differenz; sie hätte zu erforschen, wie und warum der Mensch diejenigen Grenzen immer weiter hinausschieben könne, welche die Natur den übrigen Lebewesen aufzuerlegen scheint. Eine Synopse aller wissenschaftlichen Disziplinen, wie Kant sie in seiner Architektonik der reinen Vernunft ins Auge fasste, sei der allein noch offene Weg, um ein rational zu rechtfertigendes Weltverständnis zu erreichen. Der Evolutionäre Humanismus sei demnach ein Schritt auf diesem Wege.[12][13]

Verbreitung

Deutschland:

  • Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff des evolutionären Humanismus eng mit der Giordano-Bruno-Stiftung verbunden, in deren Auftrag Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon im Jahr 2005 das Buch Manifest des evolutionären Humanismus erstellte und dessen Thesen regelmäßig in die Öffentlichkeit eingebracht werden.[14][15] Das Manifest ist mit einer verkauften Auflage von 50.000 Exemplaren die am meisten verbreitete Darstellung dieser Weltanschauung.[16]
  • Im Jahr 2014 wurde die Partei der Humanisten gegründet, die in ihrem Leitbild das Konzept des evolutionären Humanismus verankert hat.[17]
  • Die soziale Bewegung des Effektiven Altruismus deckt mit der praktischen Umsetzung einer kritisch-rationalen Ethik einen „zentralen Teilbereich“ des evolutionären Humanismus ab, wie die 2015 gegründete Stiftung für Effektiven Altruismus[18] erklärte.[19]
  • Die Säkulare Flüchtlingshilfe (englischer Name: Atheist Refugee Relief) geht in ihrem Selbstverständnis aus dem Jahr 2017 vom evolutionären Humanismus aus.[20]
  • Der Verein „Die Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters e. V.“ (KdFSMD) bezieht sich in seiner Satzung von 2018 mit einem „besonderen Schwerpunkt“ auf den evolutionären Humanismus.[21]

Ausland:

  • In Kroatien wurde 2011 das Centar za gradansku hrabrost (Zentrum für Civilcourage) gegründet, welches das Konzept des evolutionären Humanismus von der Giordano-Bruno-Stiftung übernahm.[22]
  • In Tschechien verlieh die Technische Universität in Liberec 2019 einen Ehrendoktortitel an Michael Schmidt-Salomon für Arbeiten zum evolutionären Humanismus und zur Verteidigung der offenen Gesellschaft.[23]

Kontroversen

Yuval Noah Harari schreibt in seinem Weltbestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit aus dem Jahr 2013, dass der Humanismus aus drei „Splittergruppen“ (liberaler, sozialistischer und evolutionärer Humanismus) bestehe und sich vom Monotheismus nur eine „einzige humanistische Sekte“ losgesagt habe, nämlich der evolutionäre Humanismus, „dessen bekannteste Vertreter die Nationalsozialisten waren“. Der evolutionäre Humanismus sei eine Religion, „die den Menschen verehrt“, und das „oberste Gebot“ sei der „Schutz der Menschheit vor der Degeneration zum Untermenschen und die Züchtung des Übermenschen“. In diesem Zusammenhang ordnet Harari dem evolutionären Humanismus, der den Darwinismus „falsch verstanden“ habe, die nationalsozialistische Rassenideologie sowie den Kampf gegen Liberalität und Menschenrechte zu. In den letzten 70 Jahren seit dem „Sieg über Hitler“ sei eine Verbindung zwischen dem Humanismus und der Evolutionslehre tabuisiert worden – heute sei die Zukunft des evolutionären Humanismus unklar.[24]

  • Michael Schmidt-Salomon entgegnete, dass Harari „haarsträubende Fehler“ begehe und nicht nur den theistisch-religiösen (mitunter auch okkulten) Charakter der NS-Ideologie verkenne, sondern auch sämtliche Kriterien unterlaufe, mithilfe derer sich humanistische von antihumanistischen Weltanschauungen sinnvollerweise unterscheiden lassen. Der Nationalsozialismus könne unter keinen Umständen als humanistisch bezeichnet werden, wenn dieser Begriff noch irgendeine strapazierfähige Bedeutung haben solle. Harari versuche sein Konzept zu retten, indem er dem vermeintlichen Humanismus der Nationalsozialisten das Attribut „evolutionär“ voranstelle. Begriffslogisch sei dies unsinnig. Denn wenn das Attribut „evolutionär“ dazu führen würde, dass ein Humanismus zum Antihumanismus mutiert, so müsste man von „evolutionärem Antihumanismus“ sprechen – statt von evolutionärem Humanismus. Das Weltbild der Nationalsozialisten sei weder humanistisch noch evolutionär gewesen, wenn man diese Begriffe in seriöser Weise gebrauche. Harari hätte dies selbst leicht erkennen können, wenn er darauf eingegangen wäre, was der seit Jahrzehnten in die internationale Debatte eingeführte Begriff evolutionärer Humanismus tatsächlich bedeute.[25]
  • Die Richard Dawkins Foundation wies in einem Beitrag darauf hin, dass Harari die Begriffe Religion und Humanismus auf idiosynkratische Weise verwende. Religion sei nach seiner Lesart jeder Ideenkomplex, der eine Gesellschaft ordne, indem die meisten Mitglieder dieser Gesellschaft daran glauben. Ob darin ein oder mehrere Götter vorkommen, sei für ihn nebensächlich. Der Humanismus sei für Harari die herrschende Religion der Moderne, wobei es unerheblich sei, ob die herrschenden Werte sich auf generierende Narrative von Göttern beziehen oder nicht. Hariri habe den Begriff Humanismus eigenwillig definiert und ihm damit eine vollständig andere Bedeutung als der üblichen zugewiesen. Bemerkenswert sei jedenfalls, dass für Harari die Geschichte der theistischen Religion als bestimmende Kraft abgeschlossen ist.[26]

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Julian Huxley: Die Grundgedanken des evolutionären Humanismus. In: Julian Huxley: Der evolutionäre Humanismus. Zehn Essays über die Leitgedanken und Probleme. München 1964.
  2.  Gerhard Vollmer: Evolutionärer Humanismus. In: Im Lichte der Evolution. S. Hirzel, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-7776-2636-9, S. 415 ff..
  3. 3,0 3,1 3,2 Michael Schmidt-Salomon: Bioethik im Evolutionären Humanismus. In: Dossier Bioethik. Bundeszentrale für politische Bildung, Lizenz: CC BY-NC-ND 3.0 DE, 9. Juli 2018, abgerufen am 15. April 2020.
  4. Julian Huxley zitiert in: Michael Schmidt-Salomon: Hoffnung Mensch. Eine bessere Welt ist möglich. Piper Verlag, München 2014, S. 81.
  5.  Julian Huxley: Unesco — Its Purpose and its Philosophy. UNESCO, 1946, S. 5ff (Download).
  6. gbs-Kanal auf YouTube. Abgerufen am 15. April 2020 (deutsch).
  7.  Peter Kropotkin: Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten. (Erstausgabe: Verlag Der Syndikalist, Berlin 1923). Alibri, Aschaffenburg 2013, ISBN 978-3-86569-160-6, S. 8.
  8. Paul Kurtz: Skepticism and Humanism: The New Paradigm. 2001, ISBN 1-4128-3411-2, S. 244f. (online).
  9.  Michael Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus. 2 Auflage. Alibri, Aschaffenburg 2006, ISBN 978-3865690111.
  10. Joachim Scholl: Philosoph Schmidt-Salomon – Mit Humanismus gegen moralischen Starrsinn. Deutschlandfunk Kultur, 10. März 2019, abgerufen am 15. April 2020 (deutsch).
  11. Zehn (An-)Gebote des Evolutionären Humanismus. gbs, 2005, abgerufen am 15. April 2020.
  12.  Gerhard Engel: Evolutionärer Humanismus als Integrationswissenschaft. In: Humanismusperspektiven. Band 1 der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Alibri, Aschaffenburg 2010, ISBN 978-3-86569-058-6, S. 112 ff..
  13. Gerhard Engel: Evolutionärer Humanismus als Integrationswissenschaft (als pdf). 2010, abgerufen am 15. April 2020.
  14. Michael Schmidt-Salomon im Gespräch mit Susanne Fritz: Evolutionärer Humanismus als Glaubensform – „Ich glaube an den Menschen“. Deutschlandfunk, 13. April 2015, abgerufen am 15. April 2020 (deutsch).
  15. Maren Tiemann: Gut, besser, Mensch? Spektrum.de, 1. Mai 2014, abgerufen am 15. April 2020.
  16. Buchhinweis: Manifest des evolutionären Humanismus. In: gbs. Abgerufen am 15. April 2020.
  17. Leitbild der Partei der Humanisten. Abgerufen am 28. April 2018.
  18. Effective Altruism Foundation (Stiftung für Effektiven Altruismus). Abgerufen am 15. April 2020 (en-US).
  19. Stiftung für Effektiven Altruismus: Wie steht der Effektive Altruismus zum Evolutionären Humanismus? hpd, 24. November 2015, abgerufen am 15. April 2020.
  20. Selbstverständnis und Praktische Arbeit – Atheist Refugee Relief. Abgerufen am 15. April 2020 (deutsch).
  21. Satzung und Beitragsordnung vom 26.05.2018. In: Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Deutschland. Abgerufen am 16. April 2020 (deutsch).
  22. the center. Abgerufen am 1. Juni 2015 (englisch).
  23. Ehrendoktor für Michael Schmidt-Salomon. hpd, 5. November 2019, abgerufen am 15. April 2020.
  24.  Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. 22. Auflage. Pantheon, München 2015, ISBN 978-3570552698, S. 280 ff..
  25. Michael Schmidt-Salomon: Waren die Nazis wirklich „Humanisten“? Die große Harari-Ver(w)irrung. hpd, 1. August 2017, abgerufen am 15. April 2020.
  26. Harald Stückers: Humanismus ist nur ein Wort. Richard Dawkins Foundation, 8. August 2017, abgerufen am 15. April 2020.
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