Bibliothek:Rudolf Steiner/Naturwissenschaft/GA 320 Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwickelung der Physik I/Erster Vortrag

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ERSTER VORTRAG

Stuttgart, 23. Dezember 1919

Nach den eben verlesenen Worten, von denen einige ja schon über dreißig Jahre alt sind, möchte ich bemerken, daß es natürlich nur zu nächst Streiflichter sein können, die ich in dieser kurzen Zeit, die uns zur Verfügung stehen wird, Ihnen werde für die Anschauung des natürlichen Daseins bringen können. Denn erstens werden wir, zumal ja nicht sehr viel Zeit sein wird, das diesmal Begonnene in nicht sehr ferner Zukunft weiter hier fortsetzen können, zweitens aber ist mir ja von der Absicht eines solchen Kurses erst, als ich hier schon an gekommen war, Mitteilung gemacht worden. Und daher wird es sich um etwas recht, recht sehr Episodisches in diesen Tagen nur handeln können.
Ich möchte Ihnen auf der einen Seite etwas geben, was für den Pädagogen brauchbar sein kann, weniger vielleicht nach der Richtung hin, daß er es unmittelbar so, wie ich es hier geben werde, inhaltlich im Unterricht verwerten wird können, als vielmehr nach der Richtung hin, daß es das Lehren durchdringen könne als eine gewisse wissenschaftliche Grundrichtung. Auf der anderen Seite wird es ja immer für den Pädagogen von ganz besonderer Bedeutung sein, neben den mancherlei Abirrungen, welche gerade das Naturwissen in der neueren Zeit erfahren hat, wenigstens im Hintergrunde das Richtige zu haben, und auch von diesem Gesichtspunkte aus möchte ich Ihnen einzelne Anhaltspunkte geben.
Ich möchte zu den Worten, an die freundschaftlicherweise von Dr. Stein eben erinnert worden ist, etwas hinzufügen, das ich im Beginne der neunziger Jahre aussprechen mußte, als ich vom Frankfurter Freien Hochstift aufgefordert wurde, einen Vortrag über Goethes Naturwissenschaft zu halten. Ich sagte dazumal in der Einleitung, daß ich mich darauf beschränken müsse, mehr über die Beziehungen Goethes zur organischen Naturwissenschaft zu sprechen. Denn dasjenige, was Goethesche Weltanschauung ist, heute schon hineinzutragen etwa in die physikalische und chemische Anschauung, das ist
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schier eine Unmöglichkeit, weil einfach die Physiker und Chemiker heute dazu verurteilt sind durch alles das, was in Physik und Chemie lebt, das von Goethe Ausgehende geradezu als eine Art Unsinn an zusehen, als etwas, wobei sie sich nichts vorstellen können. Und ich meinte damals, man müsse abwarten, bis Physik und Chemie durch ihre eigene Forschung gewissermaßen dahin geführt werden einzusehen, wie der Grundbau ihres wissenschaftlichen Strebens sich selber ad absurdum führt. Dann werde die Zeit gekommen sein, wo auch auf dem Gebiete der Physik und Chemie Goethesche Ansichten Platz greifen können.
Nun werde ich mich bemühen, einen Einklang zu schaffen zwischen dem, was man etwa experimentelle Naturwissenschaft nennen kann, und dem, was die Anschauung betrifft, die man über die Ergebnisse des Experiments gewinnen kann. Heute möchte ich einleitungsweise und, wie man oft sagt, theoretisch einiges zur Verständigung vor bringen. Ich möchte heute geradezu darauf abzielen, hinzuarbeiten auf ein wirkliches Verstehen des Gegensatzes zwischen landläufiger, gebräuchlicher Naturwissenschaft und demjenigen, was man als naturwissenschaftliche Anschauung aus Goethes allgemeiner Weltanschauung gewinnen kann. Wir werden dazu allerdings ein wenig auf die Voraussetzungen des naturwissenschaftlichen Denkens theoretisch eingehen müssen. Wer heute im landläufigen Sinne über die Natur denkt, der macht sich gewöhnlich nicht eine klare Vorstellung darüber, was eigentlich sein Forschungsfeld ist. Natur ist, ich möchte sagen, zu einem ziemlich unbestimmten Begriff geworden. Wir wollen daher nicht ausgehen etwa von der Anschauung, die man heute hat über das Wesen dessen, was Natur ist, sondern vielmehr davon, wie in der Naturwissenschaft gewöhnlich gearbeitet wird. Diese Arbeitsweise, wie ich sie charakterisieren werde, ist ja in der Tat etwas in Umwandlung begriffen, und es gibt manches, was man deuten kann wie die Morgenröte einer neuen Weltanschauung. Aber im ganzen herrscht doch dasjenige, was ich Ihnen heute ganz einleitungsweise charakterisieren möchte.
Der Forscher sucht heute von drei Ausgangspunkten aus der Natur beizukommen. Das erste ist, daß er versucht, die Natur so zu beobachten,
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daß er von den Naturwesen und Naturerscheinungen aus zu Art- und Gattungsbegriffen kommt. Er versucht, die Naturerscheinungen und Wesenheiten zu gliedern. Sie brauchen sich nur daran zu erinnern, wie dem Menschen in der äußeren, sinnlichen Erfahrung gegeben sind, ich will sagen, einzelne Wölfe, einzelne Hyänen, einzelne Wärmeerscheinungen, einzelne Elektrizitätserscheinungen und wie er dann versucht, solche einzelne Erscheinungen zusammenzufassen und in Arten und Gattungen zu vereinigen; wie er spricht von der Art Wolf, der Art Hyäne usw., wie er auch bei den Naturerscheinungen spricht von gewissen Arten, wie er also das zusammenfaßt, was im einzelnen gegeben ist. Man möchte sagen: Diese wichtige erste Tätigkeit, die ausgeübt wird im Naturforschen, sie wird schon etwas unter der Hand ausgeübt. Man wird sich nicht bewußt, daß man eigentlich nachforschen müßte, wie sich dieses Allgemeine, zu dem man kommt, wenn man einteilt und gliedert, wie sich das zu der Einzelheit verhält.
Das zweite, was heute getan wird, wenn man sich auf dem Felde der Naturforschung betätigt, ist, daß man versucht, entweder durch das vorbereitende Experiment oder durch dasjenige, was sich daran anschließt durch die begriffliche Verarbeitung der Ergebnisse des selben, zu dem zu kommen, was man die Ursachen der Erscheinungen nennt. Wenn man von denselben spricht, so hat man ja oftmals im Sinne Kräfte, Stoffe - man spricht von der Kraft der Elektrizität, der Kraft des Magnetismus, der Kraft der Wärme usw. -, man hat auch oftmals Umfassenderes im Sinne. Man spricht davon, daß hinter den Lichterscheinungen oder auch hinter den Elektrizitätserscheinungen so etwas ist wie der unbekannte Äther. Man versucht, aus den Ergebnissen der Experimente auf die Eigenschaften dieses Äthers zu kommen. Sie wissen, alles dasjenige, was über diesen Äther ausgesagt wird, ist außerordentlich strittig. Aber auf eines darf wohl dabei gleich aufmerksam gemacht werden: Man sucht, indem man so, wie man sagt, zu den Ursachen der Erscheinungen aufsteigen will, vom Bekannten in eine Art Unbekanntes hinein den Weg, und man fragt nicht viel darüber nach, welche Berechtigung eigentlich vorliegt, von dem Bekannten in das Unbekannte hineinzukommen. Man gibt sich nur wenig zum Beispiel Rechenschaft darüber, welches Recht
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eigentlich vorliegt, davon zu sprechen, daß, wenn wir irgendeine Licht- oder Farbenerscheinung wahrnehmen, so sei das, was wir subjektiv als Farbenqualität bezeichnen, die Wirkung auf uns, auf unser Seelisches, auf unseren Nervenapparat, sei die Wirkung eines objektiven Vorgangs, der sich im Weltenäther als Wellenbewegung abspielt. So daß wir eigentlich unterscheiden müßten ein Zweifaches: den subjektiven Vorgang und den objektiven, der in einer Wellenbewegung des Äthers oder in der Wechselwirkung desselben mit den Vorgängen in der ponderablen Materie besteht.
Diese Anschauungsweise, die jetzt ja ein wenig ins Wanken gekommen ist, sie war diejenige, die das neunzehnte Jahrhundert beherrscht hat und die eigentlich in der Art und Weise, wie man über die Erscheinungen spricht, heute noch überall zu finden ist, die noch unsere wissenschaftliche Literatur durchdringt, die durchdringt die Art und Weise, wie über die Dinge gesprochen wird.
Dann aber ist noch ein Drittes, wodurch sich der sogenannte Naturforscher zu nähern sucht der Konfiguration der Natur. Das ist, daß er die Erscheinungen ins Auge faßt. Nehmen wir eine einfache Erscheinung, diejenige, daß jeder Stein, wenn wir ihn loslassen, zur Erde fällt oder, wenn wir ihn an eine Schnur anbinden und hängen lassen, er in senkrechter Richtung zur Erde zieht. Solche Erscheinungen faßt man zusammen und kommt von diesen Erscheinungen zu demjenigen, was man Naturgesetz nennt. So betrachtet man es als ein einfaches Naturgesetz, wenn man sagt: Jeder Weltenkörper zieht die auf ihm befindlichen Körper an. Man nennt die Kraft, die da wirkt, die Gravitation oder Schwerkraft, und man spricht solch eine Kraft in bestimmten Gesetzen aus. Ein Musterbeispiel für solche Gesetze sind zum Bei spiel die drei Keplerschen Gesetze.
Auf diese drei Arten versucht sich die sogenannte Naturforschung der Natur zu nähern. Nun möchte ich gleich dem entgegenstellen, wie Goethesche Naturanschauung eigentlich von allen dreien das Gegen teil anstrebt. Erstens war für Goethe, als er anfing, sich mit den Naturerscheinungen zu befassen, die Gliederung in Arten und Gattungen sowohl der Naturwesen wie der Naturtatsachen sogleich etwas höchst Problematisches. Er wollte nicht gelten lassen die Hinaufführung der
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einzelnen konkreten Wesen und konkreten Tatsachen auf gewisse starre Art- und Gattungsbegriffe, wollte vielmehr verfolgen den allmählichen Übergang der einen Erscheinung in die andere, wollte verfolgen den Übergang der einen Gestaltung eines Wesens in die andere. Das, worum es ihm zu tun war, war nicht artliche und gattungsmäßige Gliederung, sondern es war Metamorphose, sowohl der Naturerscheinungen wie auch der einzelnen Wesenheiten in der Natur. Aber auch in dem Sinn, wie das noch die ganze Nach-Goethesche Naturforschung getan hat, auf sogenannte Naturursachen zu gehen, auch das war nicht eigentlich nach Goethes Vorstellungsart, und gerade in diesem Punkt ist es von großer Wichtigkeit, sich bekanntzumachen mit dem prinzipiellen Unterschied, der besteht zwischen der Art der gegenwärtigen Naturforschung und der Art, wie Goethe an die Natur herantritt.
Die gegenwärtige Naturforschung macht Experimente. Sie verfolgt also die Erscheinungen, versucht dann, diese begrifflich zu verarbeiten und sucht sich Vorstellungen zu bilden über dasjenige, was hinter den Erscheinungen als die sogenannten Ursachen steht, zum Beispiel hinter der subjektiven Licht- und Farbenerscheinung die objektive Wellenbewegung im Äther.
Goethe verwendet das ganze naturwissenschaftliche Denken nicht in diesem Stile. Er geht gar nicht in seiner Naturforschung von dem sogenannten Bekannten in das sogenannte Unbekannte hinein, sondern er will immer in dem Bekannten stehenbleiben, ohne daß er sich zunächst darum bekümmert, ob das Bekannte bloß subjektiv, also eine Wirkung auf unsere Sinne oder auf unsere Nerven oder auf unsere Seele ist, oder ob es objektiv ist. Solche Begriffe, wie die der subjektiven Farbenerscheinungen und der objektiven Wellenbewegungen draußen im Raume, solche bildet sich Goethe gar nicht, sondern ihm ist dasjenige, was er ausgebreitet im Raum, was er vorgehend in der Zeit sieht, ein durchaus Einheitliches, bei dem er nicht nach Subjektivität und Objektivität fragt. Er verwendet gar nicht jenes Denken und jene Methoden, die in der Naturwissenschaft angewendet werden, dazu, um von dem Bekannten auf das Unbekannte zu schließen, sondern er verwendet alles Denken, alle Methoden dazu, die Phänomene, die Erscheinungen selbst so zusammenzustellen, daß man durch diese
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Zusammenstellung der Phänomene, der Erscheinungen zuletzt solche Erscheinungen bekommt, die er Urphänomene nennt, die nun wieder um, ohne daß man Rücksicht nimmt auf subjektiv und objektiv, das aussprechen, was er zur Grundlage seiner Welt- und Naturbetrachtung machen will. Also, Goethe bleibt stehen innerhalb der Reihe der Erscheinungen, vereinfacht sie nur und betrachtet dann dasjenige, was sich als einfache Erscheinungen überschauen läßt, als das Urphänomen.
Goethe betrachtet also das Ganze, was man rennen kann naturwissenschaftliche Methode, nur als Werkzeug, um innerhalb der Erscheinungssphäre selbst so die Erscheinungen zu gruppieren, daß sie selbst ihre Geheimnisse aus sprechen. Nirgends versucht Goethe von einem sogenannten Bekannten auf irgendein Unbekanntes zu rekurrieren. Daher gibt es für Goethe auch nicht das, was man Naturgesetz nennen kann.
Ein Naturgesetz haben Sie, wenn ich sage: Bei den Umläufen um die Sonne machen die Planeten ge wisse Bewegungen, bei denen diese und diese Bahnen beschrieben werden. - Für Goethe handelte es sich nicht darum, zu solchen Gesetzen zu kommen, sondern dasjenige, was er ausspricht als die Grundlage seines Forschens, sind Tatsachen, zum Beispiel die Tatsache, wie zusammenwirken Licht und in den Weg des Lichts gestellte Materie. Wie die zusammenwirken, das spricht er in Worten aus, das ist kein Gesetz, sondern eine Tatsache. Und solche Tatsachen sucht er seiner Naturbetrachtung zugrunde zu legen. Er will nicht von dem Bekannten zu dem Unbekannten aufsteigen, er will auch nicht Gesetze haben, er will im Grunde genommen eine Art rationeller Naturbeschreibung haben. Nur daß ein Unterschied für ihn be steht zwischen der Beschreibung des Phänomens, das urmittelbar ist, das kompliziert ist, und dem anderen, das man herausgeschält hat, das nur noch die einfachsten Elemente aufweist, das dann ebenso von Goethe der Naturbetrachtung zugrunde gelegt wird wie sonst das Unbekannte oder auch der rein begrifflich festgesetzte, gesetzmäßige Zusammenhang.
Nun liegt noch etwas vor, was geradezu Licht verbreiten kann über dasjenige, was herein will in unsere Naturbetrachtung im Goetheanismus, und über dasjenige, was da ist. Es liegt die merkwürdige Tatsache
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vor, daß kaum irgend jemand so klare Anschauungen hatte über die Beziehungen der Naturerscheinungen zu der mathematischen Betrachtung wie Goethe. Das wird ja immer gewöhnlich bestritten. Einfach, weil Goethe selbst kein ausgepichter Mathematiker war, wird bestritten, daß er eine klare Anschauung hatte von den Beziehungen der Naturerscheinungen zu den mathematischen Formulierungen, die immer beliebter und beliebter geworden sind und die im Grunde genommen das einfach Sichere in der Naturbetrachtung heute sind. Nun handelt es sich darum, daß in neuerer Zeit immer mehr und mehr diese mathematische Betrachtungsweise der Naturerscheinungen - also, es wäre falsch zu sagen: die mathematische Naturbetrachtung -, diese Betrachtung der Naturerscheinungen durch mathematische Formulierungen, daß diese gerade auch maßgebend geworden ist für die Art, wie man sich die Natur selbst vorstellt.
Nun muß man über diese Dinge zur Klarheit kommen. Sehen Sie, da haben wir auf dem gebräuchlichen Wege zur Natur hin eigentlich zunächst dreierlei. Dieses Dreierlei, das ist vom Menschen angewendet, bevor er eigentlich zur Natur kommt. Das erste ist die gewöhnliche Arithmetik. Wir rechnen außerordentlich viel in der Naturbetrachtung heute, wir rechnen und zählen. Nun muß man sich klar darüber sein, daß die Arithmetik etwas ist, was der Mensch durchaus durch sich selbst begreift. Es ist ganz gleichgültig, was wir zählen, wenn wir zählen. Indem wir Arithmetik in uns aufnehmen, nehmen wir etwas in uns auf, das zunächst gar keinen Bezug zur Außenwelt hat. Daher können wir ebensogut Erbsen wie Elektronen zählen. Die Art und Weise, wie wir einsehen, daß unsere Zähl- und Rechnungsmethoden richtig sind, die ist etwas ganz anderes als das, was sich uns ergibt in dem Vorgang, auf den wir die Arithmetik anwenden.
Das zweite ist noch immer etwas, was wir ausüben, bevor wir eigentlich an die Natur herankommen. Es ist das, was Gegenstand der Geometrie ist. Was ein Würfel, was ein Oktaeder ist, wie ihre Winkel sind, das machen wir aus, ohne daß wir unsere Beobachtung über die Natur ausdehnen, das ist etwas, was wir aus uns herausspinnen. Daß wir die Dinge zeichnen, ist nur etwas, was unserer Trägheit dient. Wir könnten ebensogut alles dasjenige, was wir durch Zeichnung veranschaulichen,
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uns bloß vorstellen, und es ist sogar nützlich, wenn wir uns manches bloß vorstellen und weniger die Leiter der Veranschaulichung benützen. Daraus ergibt sich, daß dasjenige, was wir auszusagen haben über die geometrische Form, aus einem Gebiet genommen ist, das zunächst fern der äußeren Natur steht. Was wir auszusagen haben über einen Würfel, das wissen wir, ohne daß wir es ablesen vom Steinsalzwürfel. Aber es muß sich an diesem auch finden. Wir machen also etwas fern der Natur und wenden es dann auf die Natur an.
Ein Drittes, mit dem wir noch immer nicht an die Natur herandringen, ist das, was wir treiben in der sogenannten Phoronomie, in der Bewegungslehre. Nun ist es doch von einer gewissen Wichtigkeit, daß Sie sich klar machen, wie auch diese Phoronomie etwas ist, was im Grunde genommen noch ferne steht der sogenannten wirklichen Naturerscheinung. Sehen Sie, ich stelle mir vor - ich sehe nicht auf einen bewegten Gegenstand hin, sondern ich stelle mir vor -, daß ein Gegenstand sich bewegt von, sagen wir, Punkt a nach Punkt b. Ich sage
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sogar, es bewege sich der Punkt a nach Punkt b hin. Das stelle ich mir vor. Nun kann ich mir jederzeit vorstellen, daß diese Bewegung von a nach b, die ich durch den Pfeil angedeutet habe, aus zwei Bewegungen zusammengesetzt ist. Denken Sie sich einmal, der Punkt a würde nach b kommen sollen, aber er würde nicht gleich die Richtung nach b einschlagen, sondern er würde sich zunächst in der Richtung bewegen bis c. Wenn er sich dann hinterher von c nach b bewegt, so kommt er auch bei b an. Ich kann also die Bewegung von a nach b mir auch so vorstellen, daß sie nicht auf der Linie a-b verläuft,
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sondern auf der Linie oder auf den zwei Linien a-c-b. Das heißt, ich kann mir vorstellen, daß die Bewegung a-b zusammengesetzt ist aus der Bewegung a-c und c-b, also aus zwei anderen Bewegungen. Sie brauchen gar nicht einen Naturvorgang zu verfolgen, sondern Sie können sich vorstellen, daß die Bewegung a-b aus den beiden anderen Bewegungen zusammengesetzt ist, das heißt, daß statt der einen Bewegung die beiden anderen Bewegungen mit demselben Effekt aus-geführt werden könnten. Wenn ich mir das vorstelle, so ist dieses Vorgestellte rein aus mir herausgesponnen. Denn statt daß ich das gezeichnet habe, hätte ich Ihnen Anleitung geben können zum Vor stellen der Sache, und das müßte eine für Sie gültige Vorstellung sein.
Aber wenn in der Natur wirklich so etwas wie ein Punkt a da ist, ein kleines Schrotkorn etwa, und sich einmal von a nach b bewegt und ein anderes Mal von a nach c und von c nach b bewegt, so geschieht das wirklich, was ich mir vorgestellt habe. Das heißt, in der Bewegungslehre ist es so, daß ich mir die Bewegungen vorstelle, aber daß dieses Vorgestellte anwendbar ist auf die Naturerscheinungen, sich bewähren muß an den Naturerscheinungen.
So also können wir sagen: In Arithmetik, in Geometrie, in Phoronomie haben wir die drei Vorstufen der Naturbetrachtung. Die Begriffe, die wir dabei gewinnen, spinnen wir ganz aus uns selbst heraus, aber sie sind maßgebend für dasjenige, was in der Natur geschieht.
Nun bitte ich Sie, einen kleinen Erinnerungsspaziergang zu machen in Ihr mehr oder weniger lang zurückliegendes Physikstudium und sich zu erinnern, daß einmal darin Ihnen so etwas entgegengetreten ist wie das sogenannte Kräfte-Parallelogramm: Wenn auf einen Punkt a eine Kraft wirkt, so kann diese Kraft den Punkt a nach dem Punkt b ziehen. Also unter dem Punkt a verstehe ich irgend etwas Materielles, sagen wir wiederum ein kleines Körnchen. Das ziehe ich durch eine Kraft von a nach b. Bitte den Unterschied zu beachten zwischen dem, wie ich jetzt spreche und wie ich vorhin gesprochen habe. Ich habe vorhin von der Bewegung gesprochen, jetzt spreche ich davon, daß eine Kraft das a nach b zieht. Wenn Sie das Maß der Kraft, die von a nach b zieht, sagen wir mit fünf Gramm, ausdrücken durch Strecken (es wird gezeichnet): ein Gramm, zwei Gramm, drei
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Gramm, vier Gramm, fünf Gramm, so können Sie sagen: Ich ziehe mit der Kraft von fünf Gramm das a nach b. Ich könnte den ganzen Vorgang auch anders gestalten, könnte mit einer gewissen Kraft das a zuerst nach c ziehen. Wenn ich es aber von a nach c ziehe, dann kann ich noch einen zweiten Zug ausführen. Ich kann ziehen in derselben Richtung, die hier durch die Verbindungslinie von c nach b angegeben ist, und ich muß dann ziehen mit einer Kraft, welche entspricht dieser Länge. Wenn ich also hier mit einer Kraft von fünf Gramm ziehe, so müßte ich aus dieser Figur ausrechnen, wie groß der Zug a-c sein muß und wie groß der Zug c-b sein muß. Und wenn ich zu gleicher Zeit ziehe von a nach c und a nach d, so ziehe ich das a so fort, daß es zuletzt nach b kommt, und ich kann berechnen, w ie stark ich nach c und wie stark ich nach d ziehen muß. Aber das kann ich nicht so ausrechnen, wie ich die Bewegung ausrechnen kann im obigen Beispiel. Was ich hier oben für die Bewegung finde, das kann ich in der Vorstellung ausrechnen. Sobald ein wirklicher Zug, das heißt eine wirkliche Kraft ausgeübt wird, muß ich diese Kraft irgendwie messen. Da muß ich an die Natur selbst herangehen, da muß ich schreiten von der Vorstellung in die Tatsachenwelt hinein. Und je klarer Sie sich machen diesen Unterschied zwischen dem Bewegungs-Parallelogramm - ein Parallelogramm wird es ja auch, wenn Sie sich dieses (erste Figur, d) ergänzen - und dem Kräfte-Parallelogramm, um so klarer und schärfer haben Sie ausgedrückt den Unterschied zwischen all dem, was sich innerhalb der Vorstellung festsetzen läßt, und dem, was da liegt, wo die Vorstellungen aufhören. Sie können zu Bewegungen in der Vorstellung kommen, aber nicht zu Kräften. Die müssen Sie in der Außenwelt
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messen. Und Sie können überhaupt nur, wenn Sie es äußerlich experimentell feststellen, konstatieren, daß, wenn zwei Züge ausgeübt werden, von a nach c und von a nach d, daß dann a nach b gezogen wird nach den Gesetzen des Kräfte-Parallelogramms. Es gibt gar keinen Vorstellungsbeweis wie oben. Das muß äußerlich gemessen werden. Daher kann man sagen: Das Bewegungs-Parallelogramm wird gewonnen aus der bloßen Vernunft heraus, das Kräfte-Parallelogramm muß gewonnen werden auf empirische Weise durch äußere Erfahrungen. Und indem Sie unterscheiden Bewegungs-Parallelogramm von Kräfte-Parallelogramm, haben Sie haarscharf vor sich den Unterschied zwischen Phoronomie und Mechanik. Die Mechanik, die es schon zu tun hat mit Kräften, nicht mehr bloß mit Bewegungen, ist bereits eine Naturwissenschaft. Eine eigentliche Naturwissenschaft ist Arithmetik, ist Geometrie, ist Phoronomie noch nicht. Nur die Mechanik hat es mit der Wirkung von Kräften im Raum und in der Zeit zu tun. Aber man muß über das Vorstellungsleben hinaus gehen, wenn man zu dieser ersten Naturwissenschaft, zu der Mechanik, vorschreiten will.
Schon hier in diesem Punkt denken eigentlich unsere Zeitgenossen nicht klar genug. Ich will Ihnen an einem Beispiel anschaulich machen, wie gewaltig eigentlich der Sprung ist von der Phoronomie in die Mechanik hinein. Die phoronomischen Erscheinungen können ganz innerhalb des Vorstellungsraumes verlaufen, die mechanischen Erscheinungen aber werden von uns zunächst nur geprüft werden können an der Außenwelt. Man macht sich das so wenig klar, daß man eigentlich immer etwas konfundiert dasjenige, was man noch mathematisch einsehen kann, mit demjenigen, worinnen schon die Entitäten der Außenwelt spielen. Denn, was muß da sein, wenn wir vom Kräfte-Parallelogramm reden? Solange wir vom Bewegungs-Parallelogramm reden, braucht nichts da zu sein als ein gedachter Körper. Aber dort beim Kräfte-Parallelogramm muß schon da sein eine Masse, eine Masse, die zum Beispiel Gewicht hat. Darüber muß man sich klar sein: In a muß eine Masse sein. Jetzt fühlt man sich wohl auch gedrungen zu fragen: Was ist das eigentlich, eine Masse?
Ja, da wird man gewissermaßen sagen müssen: Hier stocke ich
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schon. Denn es stellt sich heraus, daß, wo man dasjenige verläßt, was in der Vorstellungswelt so festgesetzt werden kann, daß es für die Natur gilt, daß wenn man da hineinkommt, man auf ziemlich unsicherem Gebiete steht. Sie wissen ja, daß man, um gewissermaßen mit Arithmetik, mit Geometrie und Phoronomie und mit dem, was man ein bißchen hereinholt von der Mechanik, auszukommen, sich mit dem ausrüstet und dann versucht, durch die Mechanik der Moleküle, der Atome, in die man sich zerteilt denkt das, was man Materie nennt, sich vorzustellen die Naturerscheinungen, die man zunächst als subjektive Erfahrungen betrachtet. Wir greifen irgendeinen warmen Körper an. Der Naturforscher erzählt uns: Das, was du da Wärme nennst, ist Wirkung auf deine Wärmenerven. Objektiv vorhanden ist die Bewegung der Moleküle, der Atome. Die kannst du studieren nach den Gesetzen der Mechanik. - Und so studiert man die Gesetze der Mechanik, Atome und Moleküle, und man hat ja lange Zeit geglaubt, durch das Studium der Mechanik, der Atome und so weiter überhaupt alle Naturerscheinungen erklären zu können. Heute ist das ja schon im Wanken. Aber auch dann muß man, selbst wenn man bis zum Atom gedanklich vorgeht, durch allerlei Experimente dazu kommen, sich zu fragen: Ja, wie tritt denn da die Kraft auf? Wie wirkt die Masse? Wenn man bis zum Atom vordringt, so muß man fragen nach der Masse des Atoms und muß weiter fragen: Wie erkennt man sie? Man kann gewissermaßen die Masse auch nur an ihrer Wirkung erkennen.
Nun, man hat sich gewöhnt, das Kleinste, was man anspricht als Träger mechanischer Kraft, so an der Wirkung zu erkennen, daß man sich die Frage beantwortet hat: Wenn ein solcher kleinster Teil einen anderen kleinen Teil, sagen wir einen kleinen Teil einer Materie von dem Gewicht eines Gramms, in Bewegung versetzt, so muß da eine Kraft ausgehen von dieser Materie, die die andere in Bewegung versetzt. Wenn diese Masse die andere Masse, welche ein Gramm schwer ist, so in Bewegung versetzt, daß diese andere Masse in einer Sekunde einen Zentimeter weit fliegt, so hat die erste Masse eine Kraft an gewendet, die man sich gewöhnt hat als eine Art von «Welteinheit »zu betrachten. Und wenn man sagen kann: Irgendeine Kraft ist soviel-mal größer als diese Kraft, welche man anwenden muß, um ein Gramm
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in einer Sekunde einen Zentimeter weit zu bringen, so weiß man, wie sich diese Kraftanwendung zu einer gewissen Welteinheit verhält. Diese Welteinheit ist, wenn man sie ausdrücken würde durch ein Gewicht, 0,001019 Gramm. Also würde man sagen können: Solch ein atomistischer Körper, über dessen Kraftanwendung wir nicht weiter zurückgehen in der Natur, der ist imstande, irgendeinem Körper von einem Gramm Größe einen solchen Schubs zu geben, daß dieser in einer Sekunde einen Zentimeter weit fliegt.
Aber ausdrücken, was in dieser Kraft steckt, wie kann man es nur? Man kann es, wenn man auf die Waage geht: Diese Kraft kommt gleich dem Druck, der sich ausdrückt durch 0,001019 Gramm beim Wägen. Also, durch etwas sehr Äußerliches, Reales muß ich mich aus drücken, wo ich an das heran will, was in der Welt Masse genannt wird. Ich kann dasjenige, was ich da ersinne als Masse, dadurch aus drücken, daß ich etwas, was ich auf äußerlichen Wegen kennenlerne, ein Gewicht, ins Feld führe. Ich drücke die Masse nur aus durch ein Gewicht. Selbst wenn ich in das Atomisieren der Masse gehe, drücke ich mich durch ein Gewicht aus.
Damit möchte ich Ihnen eben scharf den Punkt bezeichnen, wo wir gewissermaßen aus dem a priori Festzustellenden in das Naturgemäße hineinkommen. Und ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, wie notwendig es ist, sich klar zu machen, inwieweit anwendbar ist dasjenige, was wir außer aller Natur feststellen in Arithmetik, Geometrie, Phoronomie, inwieweit das maßgebend sein kann für das, was uns eigentlich von ganz anderer Seite entgegentritt, was uns zum ersten Mal entgegentritt in der Mechanik und was eigentlich erst der Inhalt dessen sein kann, was wir als Naturerscheinung bezeichnen.
Sehen Sie, Goethe war sich darüber klar, daß man von Naturerscheinungen überhaupt erst sprechen kann in dem Augenblick, wo wir von der Phoronomie in die Mechanik eintreten. Und weil er dieses wußte, daher war es ihm so klar, welche Beziehung einzig und allein die für die Naturwissenschaft auch so vergötterte Mathematik für diese Naturwissenschaft haben kann.
An einem Beispiele möchte ich Ihnen dies noch klar machen: So wie wir sagen können, das einfachste Element in der Naturkraftwirkung,
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das wäre irgendein atomistischer Körper, der imstande ist, ein Gramm in einer Sekunde einen Zentimeter weit zu schleudern, so können wir schließlich bei allen Kraftwirkungen davon sprechen, daß von irgendeiner Seite her die Kraft ausgeht und nach irgendeiner Seite hin wirkt. Daher können wir uns gewöhnen - und diese Gewöhnung ist ja auch in der Naturwissenschaft gang und gäbe -, für die Naturwirkungen gewissermaßen überall die Punkte aufzusuchen, von denen die Kräfte ausgehen. Wir werden an zahlreichen Fällen sehen, daß wir gewissermaßen Erscheinungsfelder haben werden, und von diesen gehen wir zurück auf die Punkte, von denen die Kräfte ausgehen, die die Erscheinungen beherrschen. Daher spricht man für solche Kräfte, für die man die Punkte sucht, von denen sie ausgehen, damit sie die Erscheinungsfelder beherrschen, von Zentralkräften, weil sie immer von Zentren ausgehen. Wir könnten auch sagen: Von Zentralkräften sind wir berechtigt zu reden, wenn wir an einen Punkt gehen, von dem aus ganz bestimmte Kräfte gehen, die ein Erscheinungsfeld beherrschen. Dann aber muß nicht immer dieses Kräftespiel wirklich stattfinden, sondern es kann so sein, daß in dem Zentralpunkt gewissermaßen nur die Möglichkeit vorhanden ist, daß dieses Kräftespiel stattfindet und daß erst dadurch, daß gewisse Bedingungen eintreten in der umliegenden Sphäre, diese Kräfte zur Tätigkeit kommen.
Wir werden sehen im Laufe dieser Tage, wie gewissermaßen in den Punkten Kräfte konzentriert sind, die noch nicht spielen. Erst wenn wir gewisse Bedingungen erfüllen, dann rufen sie in ihrer Umgebung Erscheinungen hervor. Aber wir müssen doch einsehen, daß in diesem Punkt oder in diesem Raum Kräfte konzentriert sind, die auf ihre Umgebung wirken können. Das ist es eigentlich, was wir immer auf suchen, wenn wir von der Welt physikalisch reden. Alles physikalische Forschen besteht darin, daß wir die Zentralkräfte nach ihren Zentren hin verfolgen, daß wir versuchen, zu den Punkten vorzudringen, von welchen Wirkungen ausgehen können. Daher müssen wir annehmen, daß es für solche Naturwirkungen Zentren gibt, die gewissermaßen nach gewissen Richtungen hin mit Wirkungsmöglichkeiten geladen sind. Diese Wirkungsmöglichkeiten können wir allerdings durch allerlei
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Vorgänge messen und wir können auch in Maßen ausdrücken, wie stark solch ein Punkt wirken kann. Wir nennen da im allgemeinen, wenn in einem solchen Punkt Kräfte konzentriert sind, die wirken können, wenn wir gewisse Bedingungen erfüllen, wir nennen das Maß solcher Kräfte, die da konzentriert sind, das Potential, das Kräfte-Potential. Daher können wir auch sagen: Wir gehen darauf aus, wenn wir Naturwirkungen studieren, Zentralkräfte nach ihren Potentialen hin zu verfolgen. Wir gehen nach gewissen Mittelpunkten hin, um diese Mittelpunkte als Ausgangspunkte von Potentialkräften zu studieren.
Sehen Sie, das ist im Grunde genommen der Gang, den diejenige naturwissenschaftliche Richtung macht, die alles in Mechanik verwandeln möchte. Sie sucht die Zentralkräfte, beziehungsweise die Potentiale der Zentralkräfte. Hier handelt es sich darum, nun, wie durch einen wichtigen Schritt in der Natur selbst sich klar zum Bewußtsein zu bringen: Sie können unmöglich eine Erscheinung, in die das Leben hineinspielt, verstehen, wenn Sie nur nach dieser Methode vorgehen, wenn Sie nur suchen die Potentiale für Zentralkräfte. Wenn Sie nach dieser Methode studieren wollten das Kräftespiel in einem tierischen Keim oder in einem pflanzlichen Keim, Sie würden nie zurechtkommen. Es ist ja ein Ideal der heutigen Naturwissenschaft, auch die organischen Erscheinungen durch Potentiale zu studieren, durch irgendwie geartete Zentralkräfte. Das wird die Morgenröte einer neuen Weltanschauung auf diesem Gebiete sein, daß man darauf kommen wird: Durch das Verfolgen solcher Zentralkräfte geht es nicht, kann man Erscheinungen, durch die das Leben spielt, nicht studieren. Denn warum nicht? Ja, stellen wir uns einmal schematisch vor, wir gingen darauf aus, physikalisch-versuchlich Naturvorgänge zu studieren. Wir gehen zu Zentren, studieren die Wirkungsmöglichkeiten, die von solchen Zentren ausgehen können. Da finden wir die Wirkung. Also, wenn ich die drei Punkte a, b, c in ihren Potentialen ausrechne, so finde ich, daß a auf α, β, γ wirken kann, ebenso c wirken kann auf α1, β1, γ1 usw. Ich bekäme dann eine Anschauung darüber, wie die Wirkung einer gewissen Sphäre sich abspielt unter dem Einfluß von Potentialen von gewissen Zentralkräften. Niemals werde ich auf diesem Wege die Möglichkeit finden, etwas zu erklären, in das Lebendiges hineinspielt.
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Warum denn? Weil die Kräfte, die nun für das Lebendige in Betracht kommen, kein Potential haben und keine Zentralkräfte sind, so daß, wenn Sie hier versuchen würden, in d physikalische Wirkungen zu suchen unter dem Einflusse von a, b, c, so würden Sie auf Zentralkräfte zurückgehen können; wenn Sie Lebenswirkungen studieren wollen, können Sie niemals so sagen, weil es keine Zentren a, b, c gibt für die Lebenswirkungen, sondern Sie kommen nur mit der Vorstellung zurecht, wenn Sie sagen: Nun, ich habe in d Lebendiges. Nun suche ich die Kräfte, die auf das Leben wirken. In a, b, c kann ich sie nicht finden, wenn ich noch weiter gehe, auch nicht, sondern gewissermaßen nur, wenn ich an der Welten Ende gehe, und zwar an deren ganzen Umkreis. Das heißt, ich müßte hier von d ausgehend bis ans Weltenende gehen und mir vorstellen, daß von der Kugelsphäre herein überall Kräfte wirkten, die so zusammenspielten, daß sie in d zusammenkämen. Es ist also das volle Gegenteil von Zentralkräften, die ein Potential haben. Wie sollte ich ein Potential ausrechnen für dasjenige, was da von der Unendlichkeit des Raumes von allen Seiten hereinspielt! Da würde es so zu rechnen sein: Ich würde die Kräfte zu zerteilen haben, eine Gesamtkraft würde ich in immer kleinere Partien zerteilen müssen und ich käme immer mehr an den Rand der Welt. Dann würde die Kraft zersplittern. Jede Rechnung würde auch zersplittern, weil hier nicht Zentralkräfte, sondern Universalkräfte ohne Potential wirken. Hier hört das Rechnen au£ Das ist der Sprung wiederum von dem unlebendigen Natürlichen in das lebendige Natürliche hinein.
Nun kommt man mit einer wirklichen Naturbetrachtung nur zu recht, wenn man auf der einen Seite weiß, wie der Sprung von der Phoronomie in die Mechanik ist und wie wiederum der Sprung ist von der äußeren Natur in dasjenige, was nicht mehr durch Rechnung erreicht werden kann, weil jede Rechnung zersplittert, weil jedes Potential sich auflöst. Man kommt durch diesen zweiten Sprung von der äußeren unorganischen Natur in die lebendige Natur hinein. Aber man muß sich klar sein darüber, wie alles Rechnen aufhört, um das zu begreifen, was das Lebendige ist.
Nun habe ich Ihnen hier hübsch auseinandergeschält alles, was auf
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Potential- und Zentralkräfte zurückführt und was auf Universalkräfte hinführt. Aber draußen in der Natur ist das nicht so auseinander-geschält. Sie können die Frage aufwerfen: Wo ist etwas vorhanden, wo nur Zentralkräfte wirken nach Potentialen, und wo ist das andere vorhanden, wo Universalkräfte wirken, die nicht nach Potentialen sich berechnen lassen? Man kann eine Antwort darauf geben, aber diese beweist sogleich, auf welche wichtigen Gesichtspunkte man dabei rekurrieren muß. Man kann sagen: Alles das, was der Mensch an Maschinen herstellt, was aus den Elementen der Natur heraus kombiniert ist, dabei findet man rein abstrakt Zentralkräfte nach ihrem Potential. Was aber, auch Unlebendiges, in der Natur draußen ist, läßt sich trotz dem nicht restlos nach Zentralkräften beobachten. Das gibt es nicht, das geht nicht auf! Sondern es handelt sich darum, daß überall, wo man es zu tun hat mit nicht künstlich vom Menschen Hergestelltem, ein Zusammenfluß stattfindet zwischen Zentralkraftwirkungen und Universalkraftwirkungen. Man findet im ganzen Reich der sogenannten Natur nichts, was im wahren Sinn des Wortes unlebendig ist, außer dem, was der Mensch künstlich herstellt, sein Maschinelles, sein Mechanisches.
Und das war, ich möchte sagen, in einem tiefen Naturinstinkt für Goethe etwas, was ihm durchaus klar-unklar war, weil es bei ihm Naturinstinkt war, worauf er aber seine ganze Naturanschauung baute. Und der Gegensatz zwischen Goethe und dem Naturforscher, wie er repräsentiert wird durch Newton, besteht eigentlich darinnen, daß die Naturforscher nur dieses betrachtet haben in der neueren Zeit: die äußere Natur durchaus im Sinn der Zurückführung auf Zentralkräfte zu beobachten, aus ihr gewissermaßen alles das hinauszuwälzen, was sich nicht durch Zentralkräfte und Potentiale feststellen läßt. Goethe wollte solch eine Betrachtung nicht gelten lassen, weil für ihn dasjenige, was man unter dem Einfluß dieser Betrachtung Natur nennt, nur eine wesenlose Abstraktion ist. Für ihn ist ein wirklich Reales nur das, in das hinein-spielen sowohl Zentralkräfte wie peripherische Kräfte als Universalkräfte. Und auf diesen Gegensatz ist im Grunde genommen auch seine ganze Farbenlehre aufgebaut. Nun, davon wird ja in den nächsten Tagen im einzelnen zu sprechen sein.
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Sehen Sie, ich mußte insbesondere durch Berücksichtigung dessen, was ich mir vorgesehen habe für heute, diese Einleitung zu Ihnen sprechen als eine Verständigung darüber, wie eigentlich das Verhältnis des Menschen zu der Naturbetrachtung ist. Man muß in unserer Zeit um so mehr einmal sich einer solchen Betrachtung, wie wir sie heute gepflogen haben, zuwenden, aus dem Grunde, weil eigentlich heute wirklich die Zeit herangekommen ist, wo unterbewußt schimmert, möchte ich sagen, das Unmögliche der heutigen Naturanschauung und mancherlei von der Einsicht, daß es anders werden muß. Man lacht heute noch vielfach darüber, wenn Leute darauf kommen, daß es mit der alten Anschauung nicht geht. Aber es wird eine Zeit kommen, die gar nicht ferne liegt, wo dieses Lachen den Menschen vergehen wird, die Zeit, wo man auch physikalisch im Sinne Goethes wird sprechen können. Man wird vielleicht über die Farben im Sinne Goethes sprechen, wenn eine andere Burg erstürmt sein wird, die als noch viel fester gilt und die eigentlich heute auch schon ins Wanken gekommen ist. Das ist die Burg der Gravitationslehre. Gerade auf diesem Gebiete tauchen heute fast jedes Jahr Anschauungen auf, die an den Newtonschen Vorstellungen von der Gravitation rütteln, die davon sprechen, wie unmöglich es eigentlich ist, mit diesen Newtonschen Vorstellungen von der Gravitation zurecht zu kommen, die ja rein darauf be ruhen, daß der bloße Mechanismus der Zentralkräfte einzig und allein figurieren soll.
Ich glaube, daß gerade heute der Lehrer der Jugend sowohl wie derjenige, der überhaupt in die Kulturentwickelung eingreifen will, sich schon ein klares Bild davon machen muß, wie der Mensch zur Natur stehen muß.