Begriffswahrnehmung

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Die Begriffswahrnehmung oder Ideenwahrnehmung kann in zweifachem Sinn verstanden werden. Einerseits beruht sie auf der Tätigkeit des Denkens, denn dieses ist, wie Rudolf Steiner schon in seinen Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung gezeigt hat, im eigentlichen Sinn ein Auffassungsorgan, ein Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen, wobei Ideen nichts anderes als umfangreichere Begriffe sind und die einige und einzige Idee schlechthin die Totalität aller möglichen Begriffe, d.h. die Ideenwelt als Ganzheit umfasst. Die Tätigkeit des Denkens besteht nicht darin, Begriffe und Ideen zu produzieren, sondern diese im menschlichen Bewusstsein tätig zur Erscheinung zu bringen.

Klar zu unterscheiden davon ist anderseits die Tätigkeit des Denksinns, durch den wir das Denken anderer Menschen wahrnehmen können.

Das Denken als geistige Wahrnehmungstätigkeit

Hauptartikel: Denken

"Wenn die Welt bloß von Sinnenwesen bewohnt wäre, so bliebe ihr Wesen (ihr ideeller Inhalt) stets im Verborgenen; die Gesetze würden zwar die Weltprozesse beherrschen, aber sie kämen nicht zur Erscheinung. Soll das letztere sein, so muß zwischen Erscheinungsform und Gesetz ein Wesen treten, dem sowohl Organe gegeben sind, durch die es jene sinnenfällige, von den Gesetzen abhängige Wirklichkeitsform wahrnimmt, als auch das Vermögen, die Gesetzlichkeit selbst wahrzunehmen. Von der einen Seite muß an ein solches Wesen die Sinnenwelt, von der anderen das ideelle Wesen derselben herantreten, und es muß in eigener Tätigkeit diese beiden Wirklichkeitsfaktoren verbinden.

Hier sieht man wohl ganz klar, daß unser Geist nicht wie ein Behälter der Ideenwelt anzusehen ist, der die Gedanken in sich enthält, sondern wie ein Organ, das dieselben wahrnimmt. Er ist gerade so Organ des Auffassens wie Auge und Ohr. Der Gedanke verhält sich zu unserem Geiste nicht anders wie das Licht zum Auge, der Ton zum Ohr. Es fällt gewiß niemandem ein, die Farbe wie etwas anzusehen, das sich dem Auge als Bleibendes einprägt, das gleichsam haften bleibt an demselben. Beim Geiste ist diese Ansicht sogar die vorherrschende. Im Bewußtsein soll sich von jedem Dinge ein Gedanke bilden, der dann in demselben verbleibt, um aus demselben je nach Bedarf hervorgeholt zu werden. Man hat darauf eine eigene Theorie gegründet, als wenn die Gedanken, deren wir uns im Momente nicht bewußt sind, zwar in unserem Geiste aufbewahrt seien; nur liegen sie unter der Schwelle des Bewußtseins.

Diese abenteuerlichen Ansichten zerfließen sofort in nichts, wenn man bedenkt, daß die Ideenwelt doch eine aus sich heraus bestimmte ist. Was hat dieser durch sich selbst bestimmte Inhalt mit der Vielheit der Bewußtseine zu tun? Man wird doch nicht annehmen, daß er sich in unbestimmter Vielheit so bestimmt, daß immer der eine Teilinhalt von dem andern unabhängig ist! Die Sache liegt ja ganz klar. Der Gedankeninhalt ist ein solcher, daß nur überhaupt ein geistiges Organ notwendig ist zu seiner Erscheinung, daß aber die Zahl der mit diesem Organe begabten Wesen gleichgültig ist. Es können also unbestimmt viele geistbegabte Individuen dem einen Gedankeninhalte gegenüberstehen. Der Geist nimmt also den Gedankengehalt der Welt wahr, wie ein Auffassungsorgan. Es gibt nur einen Gedankeninhalt der Welt. Unser Bewußtsein ist nicht die Fähigkeit, Gedanken zu erzeugen und aufzubewahren, wie man so vielfach glaubt, sondern die Gedanken (Ideen) wahrzunehmen. Goethe hat dies [so] vortrefflich mit den Worten ausgedrückt: «Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.»" (Lit.: GA 2, S. 77f)

Begriffswahrnehmung in der älteren Griechischen Philosophie

„Ich habe in den in den letzten Tagen gehaltenen Vorträgen immer wieder betont, daß der eine Weg zur geisteswissenschaftlichen Erkenntnis in einer ganz besonderen Behandlung des Denkens, der Begriffe, der Logik besteht; daß der Mensch unter dem Einfluß der Übungen, die zu dieser Entwicklung des Denkens hinführen, dahin gelangt, nicht mehr in seinem physischen Leib zu denken, sondern in seinem Ätherleib zu denken. Dadurch denkt er nicht nur die tote Begriffslogik, sondern er lebt in der Denkbetätigung, das heißt, er lebt und webt in seinem Ätherleib, wie wir es technisch ausdrücken können. Es ist ein Sich-Hineinleben in den Ätherleib, wenn die Logik selber lebendig wird, wenn - wie ich es populär ausgedrückt habe - die Statue, durch welche man die im gewöhnlichen Leben wirkende Logik verbildlichen kann, lebendig wird, wenn der Mensch selber in seinem Ätherleib lebendig wird, das heißt, die Begriffe nicht mehr tote Begriffe sind, sondern jene lebendigen Begriffe anfangen, von denen ich seit Jahren gesagt habe, daß der Begriff Leben gewinnt, so als ob man mit seiner Seele in einem Lebendigen darin wäre. Von diesem Lebendigen als der Wahrheit der Begriffe und Ideen hat die Menschheit im Grunde genommen seit vielen Jahrhunderten in der äußeren Philosophie nichts mehr gewußt. Ich habe auf diese Tatsache hinzudeuten versucht in dem ersten zu der neuen Auflage hinzugeschriebenen Kapitel meiner «Rätsel der Philosophie».

Schon in den letzten philosophischen Zeiten des Griechentums hat die Menschheit eigentlich philosophisch nichts mehr gewußt von der möglichen Lebendigkeit der Begriffe und Ideen. Halten wir das fest. Zunächst hatte der Grieche - Sie können das nachlesen in meinen «Rätseln der Philosophie» - die Begriffe und Ideen so, wie heute der Mensch die Sinneswahrnehmungen hat, eine Farbe, einen Ton oder einen Geruch. Der große Plato, bis zu Aristoteles herauf, und erst recht die älteren Philosophen glaubten nicht, daß sie den Begriff, den Gedanken, innerlich gemacht hätten, sondern daß sie ihn von den Dingen hereinbekommen, wie man Rot oder Blau, also die sinnlichen Vorstellungen, hereinbekommt.“ (Lit.:GA 165, S. 188f)

Farbwahrnehmung und Denken

"Der Grieche erlebte den Gedanken als etwas Wahrgenommenes, nicht als etwas aktiv Ausgebildetes. Und daher waren die Griechen eigentlich nicht ein nachdenkliches Volk in dem Sinne, wie wir es sind. Nachdenklich sind die Menschen eigentlich erst geworden seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Denkprozeß hat sich verinnerlicht. Er hat sich verinnerlicht gleichzeitig mit dem Gang des Sinnesprozesses. Die Griechen sahen, ich möchte sagen mehr auf den aktiven Teil des Spektrums hin, auf die rote, die warme Seite des Spektrums; sie empfanden nur undeutlich die kalte, blaue Seite des Spektrums. Und wir haben heute ganz gewiß eine ganz andere Vorstellung von der roten und warmen Seite des Spektrums, wir sehen es viel mehr gegen das Grüne hin verschoben als die Griechen, die es über unser äußerstes Rot hinaus noch sensitiv verfolgten. Es war das griechische Spektrum ganz nach der roten Seite verschoben. Die Griechen sahen daher auch den Regenbogen anders als wir. Und dadurch, daß wir mehr nach der anderen Seite des Spektrums hin unsere Sensitivität verschoben haben, dadurch wenden wir gewissermaßen unsere Aufmerksamkeit dem Dunklen zu, und das ist schon etwas wie das Eingehen in eine Art von Dämmerung. Da wird man nachdenklich." (Lit.: GA 73a, S. 69)

Die «Drei-Welten-Lehre» von Gottlob Frege

In der 1918 veröffentlichten Schrift «Der Gedanke» formulierte der deutsche Logiker, Mathematiker und Philosoph Gottlob Frege eine Drei-Welten-Lehre, die ihr Vorbild in der klassischen griechischen Philosophie mit ihrer Dreigliederung in Physis, Psyche und Logos hat. Eine ähnliche dreigliedrige Weltauffassung wurde auch von Sir Karl Raimund Popper und später von Roger Penrose vertreten. Frege unterscheidet in seiner Schrift die Welt der physischen Gegenstände, die Welt des (menschlichen) Bewusstseins und die Welt der an sich existierenden objektiven Gedankeninhalte, wie z.B. logische und mathematische Sätze. Der Gedanke an sich gehört weder der sinnlichen Aussenwelt, noch der innerlich erlebten Vorstellungswelt an.

„Ein drittes Reich muß anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, daß es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, daß es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalte es gehört. So ist z. B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon wahr, ob irgendjemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. Er ist wahr nicht erst, seitdem er entdeckt worden ist, wie ein Planet, schon bevor jemand ihn gesehen hat, mit andern Planeten in Wechselwirkung gewesen ist.[1]

Gottlob Frege: Der Gedanke, S 69

Entsprechend unterscheidet Frege auch zwischen dem zeitlosen objektiven Gehalt des Gedankens und der subjektiven Form seines Auftretens im Bewusstsein, etwa als Vorstellung. Offen bleibt dabei zunächst noch die Frage, was die Wirklichkeit des objektiven Gedankens verbürgen könnte. Wie kann er überhaupt wirken, wenn er zeitlos und unveränderlich ist? Er wirkt, so antwortet Frege, indem wir ihn fassen, in uns und durch uns!

„Wie wirkt ein Gedanke? Dadurch, daß er gefaßt und für wahr gehalten wird. Das ist ein Vorgang in der Innenwelt eines Denkenden, der weitere Folgen in dieser Innenwelt haben kann, die, auf das Gebiet des Willens übergreifend, sich auch in der Außenwelt bemerkbar machen. Wenn ich z. B. den Gedanken fasse, den wir im pythagoreischen Lehrsatze aussprechen, so kann die Folge sein, daß ich ihn als wahr anerkenne, und weiter, daß ich ihn anwende, einen Beschluß fassend, der Beschleunigung von Massen bewirkt. So werden unsere Taten gewöhnlich durch Denken und Urteilen vorbereitet. Und so können Gedanken auf Massenbewegungen mittelbar Einfluß haben.“

Gottlob Frege: Der Gedanke, S 76-77

Die selbsttätige wesenhafte geistige Wirklichkeit der Gedanken, durch die sie wirksam gestaltend in die Natur eingreifen, unabhängig davon, ob sie vom Menschen bewusst erfasst werden, konnte Frege damit allerdings noch nicht begreifen. Dazu blieb er noch zu sehr in seinen eigenen formal-abstrakten Vorstellungsbildern gefangen und weil er sich der Idee nicht erlebend gegenüberstellen konnte, verblieb er noch in ihrer Knechtschaft (Lit.: GA 4, S. 271).

Begriffswahrnehmung und Intuition

Eben weil die Begriffswahrnehmung nicht passiv erfolgt, sondern aktiv hervorgebracht werden muss, ist es auch kein Widerspruch, wenn Rudolf Steiner in seiner «Philosophie der Freiheit» von einem Entstehen der Begriffe durch das Denken spricht:

"Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe. Wenn jemand einen Baum sieht, so reagiert sein Denken auf seine Beobachtung; zu dem Gegenstande tritt ein ideelles Gegenstück hinzu, und er betrachtet den Gegenstand und das ideelle Gegenstück als zusammengehörig. Wenn der Gegenstand aus seinem Beobachtungsfelde verschwindet, so bleibt nur das ideelle Gegenstück davon zurück. Das letztere ist der Begriff des Gegenstandes. Je mehr sich unsere Erfahrung erweitert, desto größer wird die Summe unserer Begriffe. Die Begriffe stehen aber durchaus nicht vereinzelt da. Sie schließen sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammen. Der Begriff «Organismus» schließt sich zum Beispiel an die andern: «gesetzmäßige Entwicklung, Wachstum» an. Andere an Einzeldingen gebildete Begriffe fallen völlig in eins zusammen. Alle Begriffe, die ich mir von Löwen bilde, fallen in den Gesamtbegriff «Löwe» zusammen. Auf diese Weise verbinden sich die einzelnen Begriffe zu einem geschlossenen Begriffssystem, in dem jeder seine besondere Stelle hat. Ideen sind qualitativ von Begriffen nicht verschieden. Sie sind nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfangreichere Begriffe...

Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden. Das geht schon aus dem Umstande hervor, dass der heranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erst die Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben. Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt." (Lit.: GA 4, S. 57)

Im höchsten Sinn ist die Idee ewig und einzig, wie es schon Goethe ausgedrückt hat. Sie gliedert die Vielzahl der einzelnen Begriffe der unteilbaren Ganzheit der kosmischen Ordnung ein.

„Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.“

Goethe: Maximen und Reflexionen[2]

Durch das Denken tauchen wir mit unserem Bewusstsein in den Ideeninhalt der Welt ein. Dieser Inhalt ist dann tätig durch Intuition gegeben.

"Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende bewußte Erleben eines rein geistigen Inhaltes." (Lit.: GA 4, S. 146)

Der Denksinn zur Wahrnehmung des Denkens anderer Menschen

Hauptartikel: Denksinn

Die Wahrnehmung der im eigenen Inneren tätig zur Erscheinung gebrachten Begriffe ist zu unterscheiden von der Wahrnehmung des Denkens anderer Menschen, die durch den Denksinn vermittelt wird. Der Denksinn, Gedankensinn oder Vorstellungssinn ist einer der zwölf physischen Sinne, die Rudolf Steiner in seiner Sinneslehre beschrieben hat. Wahrnehmungsorgan für die Gedanken anderer ist alles dasjenige, was in unserem physischen Organismus die Basis für unser regsames Leben ist. Das sind namentlich die dynamischen Strömungen in unserem Flüssigkeitsorganismus. Der Denksinn darf nicht verwechselt werden mit dem Lebenssinn, durch den wir unsere eigene vitale Gesamtverfassung innerlich wahrnehmen, sondern vom Denksinn sprechen wir, insofern das Leben in uns selbst zum Wahrnehmungsorgan nach außen wird.

Begriffswahrnehmung, Denksinn und Aufrichtekraft

"Der Denksinn hat wiederum nichts zu tun mit unseren eigenen Gedankenbildungen. Wenn wir selber denken, so ist dieses Denken nicht eine Tätigkeit des Denksinns, sondern das ist etwas ganz anderes. Wir werden davon noch sprechen. Der Denksinn bezieht sich darauf, daß wir die Fähigkeit haben, die Gedanken der anderen Menschen zu verstehen, wahrzunehmen. Also mit unseren eigenen Gedankenbildungen hat dieser Denksinn zunächst nichts zu tun." (Lit.: GA 170, S. 240)

"Gedankensinn ist nicht der Sinn für die Wahrnehmung eigener Gedanken, sondern für das Wahrnehmen der Gedanken der anderen Menschen. Darüber entwickeln auch wieder die Psychologen ganz groteske Vorstellungen. Vor allen Dingen sind die Leute so sehr von der Zusammengehörigkeit von Sprache und Denken beeinflußt, daß sie glauben, mit der Sprache wird immer auch das Denken aufgenommen. Das ist ein Unding. Denn Sie könnten die Gedanken durch Ihren Gedankensinn ebenso als liegend in äußeren Raumesgebärden wahrnehmen wie in der Lautsprache. Die Lautsprache vermittelt nur die Gedanken. Sie müssen die Gedanken für sich selbst durch einen eigenen Sinn wahrnehmen. Und wenn einmal für alle Laute die eurythmischen Zeichen ausgebildet sind, so braucht Ihnen der Mensch nur vorzueurythmisieren und Sie lesen aus seinen eurythmischen Bewegungen ebenso die Gedanken ab, wie Sie in der Lautsprache sie hörend aufnehmen. Kurz, der Gedankensinn ist etwas anderes, als was im Lautsinn, in der Lautsprache wirkt." (Lit.: GA 293, S. 127)

Durch den Ichsinn, den Denksinn und den Sprachsinn leben wir unmittelbar, ohne das sich eine Deutung dazwischen schiebt, mit den Seelen unserer Mitmenschen:

"Eduard von Hartmann, der wirklich sehr, sehr stark gesucht hat, beginnt sein Buch «Grundriß der Psychologie» gleich mit den folgenden Worten - wie mit Selbstverständlichkeit setzt er diese Worte hin -: «Der Ausgangspunkt der Psychologie sind die psychischen Phänomene, und zwar für jeden die eigenen, da nur diese ihm unmittelbar gegeben sind, und niemand in das Bewußtsein eines anderen hineinzuschauen vermag.» Die ersten Sätze einer Seelenkunde eines der bedeutendsten Philosophen der unmittelbaren Gegenwart gehen davon aus, daß man ableugnet die Sinne: Sprachsinn, Denksinn, Ichsinn. Man weiß nichts davon. Und denken Sie doch, daß hier ein Fall vorliegt, wo geradezu die Absurdität, der absoluteste Unsinn wissenschaftlich werden muß, damit man die Dinge ableugnen kann! Gerade wenn man nicht verworren gemacht ist durch diese Wissenschaft, kann man sehr leicht die Fehler einsehen, die diese Wissenschaft macht. Denn diese Seelenkunde sagt: In die Seele des anderen siehst du nicht hinein, die deutest du dir nur aus ihren Äußerungen. Also denken Sie einmal, die Seele des anderen soll man sich deuten durch ihre Äußerungen! Wenn jemand einem ein liebes Wort sagt, das soll man erst deuten! Ist das wahr? Nein, es ist nicht wahr! Das liebe Wort wirkt unmittelbar, wie die Farbe, die auf Ihr Auge wirkt! Und dasjenige, was als Liebe in der Seele lebt, wird auf den Flügeln des Wortes in Ihre Seele getragen, so wie die Farbe in Ihr Auge getragen wird. Unmittelbare Wahrnehmung ist es, von einer Deutung ist da nicht die Rede. Die Wissenschaft muß uns erst in unserer Egoität abschließen durch ihren Unsinn, um nicht aufmerksam darauf zu machen, daß wir, indem wir mit unseren Mitmenschen leben - und ich habe gesagt: beim Ichsinn, Denksinn, Sprachsinn kommt es darauf an -, wir unmittelbar mit ihren Seelen leben. Wir leben mit den Seelen der anderen, wie wir mit den Farben und mit den Tönen leben, und wer das nicht einsieht, weiß überhaupt nichts vom seelischen Leben. Das ist das Wichtigste, daß man gerade solche Dinge durchschaut. Es werden heute ausführliche Theorien verbreitet darüber, daß eigentlich alle Eindrücke, die wir von anderen Menschen bekommen, nur symbolisch seien und gedeutet würden aus den Äußerungen. Es ist aber gar nichts wahr daran." (Lit.: GA 169, S. 63f)

Die Fähigkeit des Menschen, Begriffe anderer Menschen wahrnehmen zu können, ist an seine Aufrichtekraft gebunden.

"Das Ich erlebt in den Begriffswahrnehmungen die Begriffe; der Lebenssinn in seiner umgewendeten Art bringt die lebendigen Begriffe der höheren Geisteswelt hervor. In der physischen Welt können sie nur als Gestaltungskräfte wirken. Es ist doch gewiß klar, daß der Mensch die Fähigkeit der Begriffs Wahrnehmung seiner aufrechten Gestalt verdankt. Kein Erdenwesen außer ihm hat die Begriffswahrnehmung, keines die in gleicher Art aufrechte Gestalt. (Eine leichte Überlegung kann zeigen, daß bei Tieren, die eine scheinbar aufrechte Gestalt haben, diese auf anderes als innere Kräfte zurückzuführen ist.) So kann man in der Richtung von unten nach oben diejenige sehen, welche mit der Begriffswahrnehmung zusammenhängt, wenn der umgewendete Lebenssinn nicht dabei mitwirkt. Daraus darf auf eine Richtung von oben nach unten für den umgewendeten Lebenssinn geschlossen werden. Noch richtiger würde sein, zu sagen, auf eine Richtung nahezu von oben nach unten. Denn man sollte in der Wachstumsrichtung von unten nach oben etwas sehen, was dem umgewendeten Tastsinn entgegengesetzt ist. Insofern im Sinne der obigen Ausführungen das Ich einen Gegensatz zum Tastsinn darstellt, kann man die senkrechte Wachstumsrichtung des Leibes nach oben als Ich-Träger wie eine fortdauernde Überwindung des Gewichtes nach unten ansehen, was ja eine Umkehrung des Tasterlebnisses darstellt. Aus alledem kann auf einen Gegensatz des «oben-unten» und «unten-oben» im Menschenleibe so gedeutet werden, wie wenn eine Strömung von unten nach oben so stattfände, daß in ihr die Überwindung des von oben nach unten gehenden umgewendeten Lebenssinnes gegeben ist. Nun muß in diesem umgewendeten Lebenssinn das Hereinwirken der höheren Geisteswelt auf den physischen Menschenleib gesehen werden. Man kann somit sagen: der Menschenleib, insoferne er Ich-Träger ist, strebt nach oben; der physische Menschenleib, insoferne er in seiner Gestalt die Wirkung der höheren Geisteswelt zeigt, von oben nach unten. Insoferne leiblich der Mensch das Bild einer der höheren geistigen Welt angehörigen Wesenheit ausdrückt, kann man ihn aus der Durchdringung zweier Kraftrichtungen ansehen, als die Begegnung des Ich-Leibes mit dem physischen Leib. In seinem Ich-Erlebnis gehört der Mensch der physischen Außenwelt an, stellt aber zugleich dasjenige dar, was ein Bild gibt von dem in sich selbst zurückgestrahlten Erlebnis. Das ist ein Bild von dem, was als die in sich selbst ruhenden Sinneserlebnisse der höheren Geisteswelt charakterisiert worden ist. Im Leibe, insofern er Ich-Träger ist, darf somit ein Bild des sich selbst verinnerlichenden Stoffes gesehen werden." (Lit.: GA 45, S. 91ff)

Der Mensch war ursprünglich dazu veranlagt, die Gedanken anderer menschen viel geistiger wahrzunehmen. Durch den ahrimanischen Einfluss wurde das verhindert. Gerade dadurch entstand aber die Fähigkeit des eigenen Denkens.

"Insofern wir ein Lebensorganismus sind, können wir wahrnehmen die Gedanken des andern. Wiederum sind wir dazu veranlagt gewesen, viel geistiger die Gedanken des andern wahrzunehmen, als wir sie eigentlich jetzt wahrnehmen. Gewissermaßen im einfachen Demandern- Gegenübertreten sind wir veranlagt gewesen, seine Gedanken innerlich nachzufühlen, sie nachzuleben. Es ist ein grober physischer Abglanz, wie wir heute die Gedanken des andern ja sogar nur auf dem Umweg der Sprache wahrnehmen. Und höchstens, wenn wir uns ein wenig dressieren auf die Gestikulationen und auf das Mienenspiel und auf die Physiognomie des andern, können wir noch einen Nachklang von dem wahrnehmen, wozu wir veranlagt waren. Die ganze Denkdisposition eines Menschen wahrzunehmen, waren wir veranlagt, indem wir ihm gegenübertraten, sie nachzuleben und die einzelnen Denkäußerungen aus den einzelnen Gesten, einzelnen Mienen wahrzunehmen. Wiederum ist es eine ahrimanische Gabe, durch welche umgewandelt worden ist diese mehr geistige Art der Wahrnehmungen der Gedankenwelt, die sich sogar im Verlaufe der Menschheitsevolution immer mehr und mehr auf die äußere Sprache konzentriert hat. Wir brauchten gar nicht so sehr weit zurückzugehen in der Menschheitsentwickelung, nur bis in die ägyptisch-chaldäische Zeit, von der indischen gar nicht zu sprechen, wo das noch in höchstem Maße ausgebildet war - wir brauchten nur hinter die griechisch-lateinische Zeit zurückzugehen, da finden wir noch ein feines Verständnis bei der Menschheit für das Gedankenleben, insofern es sich ausgedrückt hat in den unausgesprochenen Worten, in dem, was durch Physiognomie, durch Gesten, selbst durch Stellungen, durch die ganze Art des Gegenübertretens des einen Menschen zum anderen, zum Ausdrucke gekommen ist. Dafür hat der Mensch sein Verständnis verloren. Immer weniger und weniger ist von dem erhalten geblieben, und heute ist schon recht wenig Verständnis dafür vorhanden, die inneren Gedankengeheimnisse des Menschen zu erlauschen aus der Art und Weise, wie er uns entgegentritt. Wir hören fast nur mehr auf dasjenige,was von seinen Gedanken, in seinen Gedanken, an seinen Gedanken dadurch zu uns kommt, daß er es uns durch die hörbaren Worte mitteilt. Dadurch aber, daß dies geschehen ist, haben wir die Fähigkeit erhalten, unseren Lebensapparat, unseren Lebensorganismus selbst zum Denkapparat zu machen. Wir würden nicht die Gabe des Denkens haben, wenn das nicht geschehen wäre, was ich gesagt habe, wenn nicht jener ahrimanische Einfluß gekommen wäre, von dem ich gesprochen habe. So sehen Sie, daß in einer gewissen Beziehung zusammenhängt unsere heutige Fähigkeit, zu sprechen, mit dem Wortesinn, Sprachsinn, aber auf dem Umwege durch ahrimanische Einflüsse; daß unsere heutige Fähigkeit, zu denken, zusammenhängt mit unserem Gedankensinn, wiederum auf dem Umwege durch ahrimanische Einflüsse." (Lit.: GA 170, S. 247)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. Man sieht ein Ding, man hat eine Vorstellung, man faßt oder denkt einen Gedanken. Wenn man einen Gedanken faßt oder denkt, so schafft man ihn nicht, sondern tritt nur zu ihm, der schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung, die verschieden ist von der des Sehens eines Dinges und von der des Habens einer Vorstellung.
  2. Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe, Bd. 18, S. 528